
Genozid-Forscher zu Gaza: „Ziel der Offensive war, die palästinensische Gesellschaft systematisch zu zerstören“
Der israelische Genozid- und Holocaust-Forscher Omer Bartov über das Massaker der Hamas, das sich anschließende drastische Vorgehen Israels und die Frage, wie der Nahost-Konflikt befriedet werden könnte.
Professor Bartov, hätten Sie nach dem Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023 mit einem so massiven Krieg in Gaza gerechnet?
Nicht unmittelbar, aber die Reaktionen israelischer Politiker und Militärs ließen schnell erkennen, dass eine Vergeltung von beispiellosem Ausmaß geplant war. Bereits in den ersten Tagen nach dem Angriff gab es Aussagen von hochrangigen Regierungsmitgliedern und Offizieren, die andeuteten, dass die Reaktion nicht nur militärisch, sondern auch zerstörerisch sein würde. Ich habe frühzeitig gewarnt, dass Israel Gefahr läuft, sich auf eine Eskalationsspirale einzulassen, die in einen Völkermord münden könnte. Bereits im November habe ich in der „New York Times“ auf die massiven Zerstörungen in Gaza hingewiesen und argumentiert, dass hier nicht nur auf militärische Ziele gezielt wurde, sondern auf die gesamte zivile Infrastruktur. Die Art der Bombardierungen, die großflächige Vertreibung der Bevölkerung, die Zerstörung von Krankenhäusern, Universitäten und anderen lebenswichtigen Einrichtungen – all das ließ erahnen, dass es hier nicht nur um die Zerschlagung der Hamas ging, sondern um eine fundamentale Veränderung der Lebensbedingungen in Gaza.
Hat die Hamas am 7. Oktober ein Pogrom verübt?
Nein, das ist ein historisch und begrifflich falscher Vergleich. Der Begriff „Pogrom“ stammt aus dem zaristischen Russland und bezeichnete Angriffe einer Mehrheitsgesellschaft auf eine wehrlose Minderheit, oft mit direkter oder stillschweigender Unterstützung des Staates. Klassische Pogrome richteten sich beispielsweise gegen jüdische Gemeinden, die keine eigene politische oder militärische Macht hatten. Israel hingegen ist ein Staat mit einer der schlagkräftigsten Armeen der Welt und vollständiger Kontrolle über sein Staatsgebiet. Die Gewalt der Hamas am 7. Oktober war zweifellos ein Massaker, aber kein Pogrom. Dennoch wurde dieser Begriff bewusst in die öffentliche Debatte eingeführt, um den Angriff in eine historische Kontinuität mit antisemitischer Gewalt zu stellen. Der Effekt ist, dass jede Kritik an der israelischen Reaktion moralisch diskreditiert wird. Es gibt jedoch Pogrome, die in der Westbank stattfinden – verübt von israelischen Siedlern gegen Palästinenser. Dort gibt es organisierte Angriffe auf palästinensische Dörfer, oft unter dem Schutz der Armee. Wenn wir also von Pogromen sprechen, dann wäre es angebrachter, diesen Begriff auf die Gewalt in der Westbank anzuwenden als auf den Angriff der Hamas.
Der Angriff der Hamas wurde als schlimmster Angriff auf Juden seit dem Holocaust bezeichnet.
Diese Rhetorik ist bewusst gewählt, weil sie dazu dient, die israelische Reaktion zu legitimieren. Wenn man sagt, dass dies der schlimmste Angriff auf Juden seit dem Holocaust sei, dann wird damit impliziert, dass Israel das Recht hat, auf jede erdenkliche Weise zurückzuschlagen – ohne Rücksicht auf zivile Opfer. Die nächste Stufe dieses Arguments ist, dass die Hamas mit den Nazis gleichgesetzt wird. Und manche Politiker in Israel sind noch weiter gegangen und haben gesagt, die Hamas sei schlimmer als die Nazis. Diese Rhetorik führt dazu, dass jegliche Proportionalität verloren geht. Wenn der Gegner mit Hitler gleichgesetzt wird, gibt es keinen Raum für Diplomatie oder Verhandlungen – dann bleibt nur noch die vollständige Zerstörung. Weiterlesen in fr.de
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