Heute wie damals beansprucht Deutschland die Definitionshoheit darüber, wer ein Jude ist

https://www.counterpunch.org/2025/01/03/today-as-in-the-past-germany-claims-the-authority-to-define-who-is-a-jew/

Heute wie damals beansprucht Deutschland die Definitionshoheit darüber, wer ein Jude ist

Nelson Pereira

3. Januar 2025

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Israelis for Peace Berlin vor dem Außenministerium.

Deutschland erweckt die Geister einer dunklen Vergangenheit wieder zum Leben und behauptet erneut, die Autorität zu haben, zu definieren, wer ein Jude ist. Diejenigen, die dies behaupten, sind in Deutschland lebende Juden, die sich in dem Moment, in dem sie Israel kritisieren, als Zielscheibe von Delegitimierungsprozessen wiederfinden. Zwischen Israel und den Juden entscheidet sich Deutschland für den zionistischen Staat.

Für den Philosophen und Journalisten Martin Gak, „wenn der deutsche Staat sich in die Lage versetzt, mir vorzuschreiben, was die Meinung eines Juden sein soll und welche Äußerungen des Antisemitismus zu verurteilen und welche zu schützen sind, kommt mir der berühmte Satz von Hermann Göring in den Sinn, einem der Hauptarchitekten des Polizeistaats in Nazi-Deutschland: In Deutschland entscheide ich, wer ein Jude ist.“

„Was passiert, ist, dass der deutsche Staat die Rolle übernimmt, jüdischer zu sein als die Juden“, sagt Michael Sappir, ein israelischer Jude, der die antizionistischen Bewegungen Jewish-Israeli Dissidence in Leipzig und Israelis for Peace in Berlin mitbegründet hat. „Die Kehrtwende ist erstaunlich, es ist, als ob Deutschland das Opfer von Antisemitismus wäre“, fügt er hinzu.

Seit der Bundestag 2019 eine Resolution verabschiedet hat, in der die BDS-Bewegung, die zu wirtschaftlichem Druck auf Israel aufruft, als antisemitisch verurteilt wird, haben verschiedene Kultureinrichtungen im Land Einladungen zurückgezogen und Veranstaltungen abgesagt, um dem Vorwurf des Antisemitismus vorzubeugen.

Dieses Phänomen wurde nach dem 7. Oktober 2023, als Deutschland ein fast vollständiges Verbot pro-palästinensischer Proteste verhängte, noch deutlicher. Die deutschen Behörden leiteten eine der umfangreichsten Razzien gegen die Zivilgesellschaft seit Jahrzehnten ein und erließen drakonische Verbote für pro-palästinensische Reden und Symbole. Diese Repressionskampagne richtete sich gegen Künstler, Verleger, Aktivisten und Akademiker. Einige von ihnen waren Juden.

Als der israelische Filmemacher Yuval Abraham und sein palästinensischer Co-Regisseur Basel Adra in ihren Reden zur Preisverleihung der Berlinale im Februar Deutschlands Mitschuld am Krieg in Gaza und Israels gewaltsame Unterdrückung der Palästinenser kritisierten, wurden sie vom Berliner Bürgermeister Kai Wegner (CDU) des Antisemitismus bezichtigt.

„Deutschland benutzt einen Begriff, der zum Schutz der Juden geschaffen wurde, als Waffe, um nicht nur Palästinenser, sondern auch Juden und Israelis, die die Besatzung kritisieren, zum Schweigen zu bringen“, sagte Yuval Abraham damals.

Die Diaspora Alliance, eine internationale jüdisch geführte Organisation, die sich gegen die Instrumentalisierung von Antisemitismus und für die Bekämpfung dessen einsetzt, was sie als echte Anzeichen von Antisemitismus betrachtet, hat 84 Fälle von Delegitimierung oder Veranstaltungsabsagen im Jahr 2023 dokumentiert. Die Organisation stellt fest, dass in 25 % dieser Vorfälle jüdische Einzelpersonen oder Gruppen die Zielscheibe waren. Und das, obwohl Juden weniger als 1 % der deutschen Bevölkerung ausmachen.

„Nach dem Holocaust brauchte Deutschland ein Zertifikat zur moralischen und politischen Rehabilitation der deutschen Seele“, erklärt Martin Gak. „Das Problem wurde mit der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 gelöst. Die Zionisten entschieden, dass Israel die einzige autorisierte Stimme ist, die die Juden vertritt, und so erhielt Deutschland das lang ersehnte koschere Zertifikat der Rehabilitation und Erlösung seiner moralischen und politischen Seele.“

Von da an begann die Frage nach der besonderen Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel, wie deutsche Politiker es nennen. Gak stellt jedoch fest, dass dies ein falscher Ton ist. Letztlich hat diese Position nichts mit den Juden oder gar Israel zu tun. „Sie hat mit einer Sache zu tun, und das ist die einzige Sache, die die Deutschen betrifft: Deutsche. Es geht bei all dem nur um Deutsche“, betont er.

Das Konzept der besonderen Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel hat sich in der deutschen Politik nach Angela Merkels Rede in der Knesset im Jahr 2008 verfestigt, als die Kanzlerin erklärte, die Sicherheit Israels sei die Staatsräson Deutschlands.

Am 12. Oktober 2023 zitierte Olaf Scholz Merkels Formulierung in einer Erklärung vor dem Deutschen Bundestag: „Die Sicherheit Israels ist Teil der deutschen Staatsraison. Unsere eigene Geschichte, unsere Verantwortung aus dem Holocaust, macht es zu unserer ständigen Pflicht, die Existenz und die Sicherheit des Staates Israel zu verteidigen.“

Das war einen Tag, bevor der israelische Völkermordforscher Raz Segal in einem Artikel in der amerikanischen Zeitschrift Jewish Currents behauptete, dass, als der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant am 9. Oktober eine vollständige Belagerung des Gazastreifens ankündigte, weil „wir gegen menschliche Tiere kämpfen, und wir werden entsprechend handeln“, die Bedeutung nicht weniger deutlich war als im Vernichtungsbefehl von General Lothar von Trotha, dem obersten militärischen Befehlshaber in Deutsch-Südwestafrika, der 1904 zum Völkermord an den Herero und Nama führte.

Martin Gak.

Gak ist unnachgiebig. „Deutschland wird nicht zulassen, dass irgendein Israeli oder Jude es daran hindert, Israel zu verteidigen. In der Tat hat Deutschland in den letzten zwei Jahren nicht nur Israelis vor Gericht gestellt, die ihre Unterstützung für die BDS-Bewegung zum Ausdruck gebracht haben, sondern auch eine beträchtliche Anzahl von Juden verhaftet, weil sie sich öffentlich gegen Israel ausgesprochen haben.“ Er fügt hinzu, dass es in Deutschland derzeit Säuberungen von Menschen gibt, die politisch und ideologisch nicht mit der deutschen Vorstellung davon übereinstimmen, was ein Jude sein sollte und was Israel ist. Und er fügt hinzu, dass Albert Einstein im heutigen Deutschland für seine Kritik an Israel verfolgt werden würde. „Seine Opposition gegen die Idee eines religiösen Nationalstaates, weil das die Juden im Grunde zu all dem degradieren würde, was wir bekämpft haben, unter Bezugnahme auf die Nazis, hätte Einstein auf die Konfliktlinie mit dem deutschen Staat gebracht, weil diese Worte nun als gegen die Interessen der Nation gerichtet angesehen würden.“ „Deutschland ist immer noch kein Land für Juden“, schließt er.

Der australische Völkermordforscher Anthony Dirk Moses sagte 2021, dass im heutigen Deutschland jeder, der bestimmte „Glaubensartikel“ wie die unkritische Unterstützung des deutschen Staates für Israel, die die Grundlage der deutschen Nachkriegsidentität bildet, in Frage stellt, Gefahr läuft, vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen zu werden. Das Gleiche gilt für jeden, der die Einzigartigkeit des Holocausts in Frage stellt oder ihn mit der völkermörderischen kolonialen Vergangenheit Deutschlands in Verbindung bringt, dem anderen Glaubensartikel in diesem „deutschen Katechismus“, so Moses.

„Besonders auffällig ist, dass Netanjahu und der Likud in der Folge ihre Verbindungen zur extremen Rechten verstärkt haben und deren politische Kampagnen, von denen viele antisemitisch sind, aktiv unterstützen“, prangert Martin Gak an. Er verweist auf das Beispiel von Orbans Kampagne gegen Soros, die von Netanjahus ehemaligem Stabschef George Birnbaum aufgebaut wurde.

Michael Sappir wuchs in Westjerusalem auf, in einer Familie von Nachkommen von Holocaust-Überlebenden, die Israels Behandlung der Palästinenser stets kritisch gegenüberstanden. Es war die Ablehnung des Zionismus und des zionistischen Narrativs, die ihn und seine Eltern und Geschwister schließlich dazu brachte, Israel zu verlassen.

Michael Sappir.

Heute beobachtet er mit Besorgnis das deutsche Abdriften, das er als sehr gefährlich für Juden ansieht. „Es ist besonders gefährlich, weil Juden wieder einmal zynisch benutzt werden, indem viele deutsche Politiker behaupten, sie würden das jüdische Volk schützen, indem sie die Muslime loswerden und Muslime und Araber draußen halten“, betont er.

Sappir weist darauf hin, dass in Deutschland, wie auch in anderen Ländern, Parteien, die behaupten, gegen die extreme Rechte zu sein, dieselbe Politik verfolgen, wenn es um Einwanderer, insbesondere Muslime, geht. Wenn als Vorwand ein angeblicher Kampf gegen Antisemitismus und die Verteidigung sogenannter liberaler Werte vorgeschoben wird, „gibt sich das Manöver als Antifaschismus aus“, so Sappir. „Aber in Wirklichkeit ist das Narrativ des Kampfes gegen äußere Einflüsse, die unsere Bevölkerung korrumpieren, genau die faschistische Rhetorik, genau die Art von Gerede, die wir vor hundert Jahren über die Juden in Europa hatten.“

Der deutsche Wirtschaftssoziologe Wolfgang Streeck warnte kürzlich in einem im European Journal of Social Theory veröffentlichten Artikel davor, dass Deutschlands bedingungslose Unterstützung Israels eine weitere verhängnisvolle Folge hat.

Streeck stellt fest, dass Deutschland durch die Ausrichtung des öffentlichen Gedenkens an die Naziverbrechen auf die Interessen Israels die Opfer des Naziregimes, die nicht von einer staatlichen Lobby unterstützt wurden – seien es Zigeuner, Behinderte, Kommunisten, Homosexuelle oder Antizionisten -, in Vergessenheit geraten lässt.

Der Soziologe fügt hinzu, dass die moralische Verpflichtung des deutschen Staates nach dem Nationalsozialismus zwar ursprünglich darin bestand, das Völkerrecht und den Staat Israel gleichermaßen zu unterstützen, dass sich das Gleichgewicht nun aber zugunsten des letzteren und auf Kosten des ersteren verschoben hat, so dass man von einer universalistischen zu einer partikularistischen Interpretation der historischen Schuld Deutschlands übergegangen ist

Diese Neuformulierung habe den deutschen Staat zu einer der wichtigsten strategischen Entscheidungen in seinem Bündnis mit Israel geführt, so Streeck. Zwischen 1997 und 2000 lieferte Deutschland drei nuklearfähige U-Boote der Dolphin-Klasse an die israelische Marine, zwei weitere U-Boote einer aufgerüsteten Version (Dolphin II) in den Jahren 2014 und 2015, gefolgt von einem weiteren im Jahr 2019. Drei weitere aufgerüstete U-Boote sollen zwischen 2027 und 2029 geliefert werden, die ebenfalls ganz oder teilweise von Deutschland finanziert werden.

Militäranalysten haben behauptet, dass Israel seine U-Boot-Flotte so umgerüstet hat, dass es Marschflugkörper mit Nuklearsprengköpfen starten kann. Zusammen mit seinem Status als Atommacht, den es weder bestätigt noch dementiert hat, verfügt Israel somit über eine Flotte nicht lokalisierbarer U-Boote, die Atomraketen von jedem Ort im Mittelmeer oder im Indischen Ozean aus starten können. Nach Ansicht von Streeck ist dies ein Faktor, der nicht ignoriert werden kann, wenn man versucht, die Grundlage für Israels Status der Straflosigkeit und die nonchalante Haltung des zionistischen Staates gegenüber dem Völkerrecht und den Forderungen nach einer diplomatischen Konfliktlösung zu verstehen.

Gak, Sappir BIO

Martin Gak

Dr. Martin Gak ist Journalist und Philosoph mit umfangreicher Erfahrung im Rundfunk, unter anderem als Produzent, Moderator, Reporter und Regisseur. Er war als Korrespondent für religiöse Angelegenheiten sowie als Redakteur und Produzent der internationalen Politiksendung Conflict Zone tätig. Zu seinem akademischen Hintergrund gehört ein Doktortitel der New School for Social Research.

Michael Sappir

Michael Sappir wuchs in West-Jerusalem in einer Familie von Nachkommen von Holocaust-Überlebenden auf. Als er 19 Jahre alt war, zog er nach Leipzig, Deutschland. Derzeit lebt er in Berlin und arbeitet als Forscher und Autor. Er ist Mitbegründer zweier antizionistischer Bewegungen in Deutschland, der Jüdisch-Israelischen Dissidenz in Leipzig und der Israeliten für den Frieden in Berlin. Sappir war Chefredakteur der deutschsprachigen Studentenzeitung „critica“ und Mitbegründer von „Parallelwelt Palästina“, dem ersten deutschsprachigen politischen Podcast über Palästina.

Übersetzt mit Deepl.com

 

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