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Intellektuelle Bankrotterklärung
In seinem neuen Buch über den mutmaßlichen Genozid in Gaza geht der indische Starintellektuelle Pankaj Mishra wieder einmal hart mit dem Westen ins Gericht. Besonders heftig trifft seine Kritik Deutschland.
Emran Feroz hat ihn interviewt.
Feroz: In Ihrem jüngsten Werk „Die Welt nach Gaza“ schreiben Sie unter anderem auch über ein Bild von Mosche Dajan, das einst in Ihrem Zimmer hing und die prozionistische Haltung ihrer Familie verdeutlichte. Ich muss zugeben, dass ich damit nicht gerechnet habe. Was genau hat es damit auf sich?
Mishra: Damals war ich noch sehr jung und nicht einmal zehn Jahre alt. Wir sprechen hier über die späten Siebziger Jahre. Aber offensichtlich hatten die Erwachsenen um mich herum eine sehr starke Verbundenheit mit dem Staat Israel. Und diese Verbundenheit sieht man auch heute in verstärkter Form bei den buchstäblich Millionen von hindu-nationalistischen Anhängern Netanjahus. Ich denke, der Grund, warum sie Netanjahu unterstützen, ist im Wesentlichen der gleiche Grund, warum meine Verwandten und die Menschen um mich herum damals Israel unterstützten. Israel erschien uns sehr geschlossen, geeint und stark – und vor allem war es gnadenlos gegenüber seinen Feinden. Genau das wollten wir nachahmen, weil wir das Gefühl hatten, wir seien zu weich. Wir waren nicht stark genug, nicht robust genug, nicht aggressiv genug gegenüber unseren Feinden, während Israel mit seinen Feinden, insbesondere Muslimen, in der einzigen Sprache umging, die sie scheinbar verstanden: Gewalt und noch mehr Gewalt. Das war die Grundlage dieser Faszination für Israel. Wir wussten nicht viel über die jüdische Geschichte und auch nicht viel über den Holocaust. Israel war ein stolzer Nationalstaat, der expandierte und seine arabisch-muslimischen Feinde besiegt hatte. Das war das Wichtigste.
Feroz: Interessant ist auch, dass es damals – im Gegensatz zu heute unter dem Modi-Regime in Indien – zwar viele hindu-nationalistische Israel-Unterstützer gab, aber der politische Mainstream in Indien, insbesondere rund um Jawaharlal Nehru und seiner Kongresspartei, sehr pro-palästinensisch war.
Mishra: Bis in die 1940er-Jahre waren alle großen indischen Anti-Kolonialisten äußerst mitfühlend gegenüber den europäischen Juden, besonders auch gegenüber jenen, die nach Palästina gehen wollten. Es gibt zahlreiche Aussagen von Gandhi oder Nehru, die ihr Mitgefühl für den Wunsch vieler Juden ausdrücken, nach Palästina zurückzukehren. Aber dann, als klar wurde, dass ein jüdischer Nationalstaat in Palästina mit westlicher Waffengewalt und imperialistischer Unterstützung entstehen würde, begann sich diese Haltung zu ändern. Und so hatte Indien nach seiner Unabhängigkeit 1947 eine sehr pro-palästinensische Politik. Es erkannte sofort, dass die Palästinenser enteignet wurden. Indien war unter anderem an den UN-Diskussionen über eine mögliche Lösung beteiligt und schlug einen föderalen Plan vor, der abgelehnt wurde. Indien war von Anfang an in diese Angelegenheit involviert und stand nach 1948 fest auf der Seite der Palästinenser, die als die eigentlichen Opfer des Konflikts gesehen wurden. Und diese Unterstützung dauerte Jahrzehnte an – bis in die jüngste Vergangenheit. Palästinensische Führer, Aktivisten und Schriftsteller besuchten regelmäßig Indien, und es gab viele palästinensische Studenten an indischen Universitäten. Als ich mit meinem Studium begann, lernte ich viele von ihnen kennen, und durch sie bekam ich eine andere Perspektive auf die Geschichte Israels.
Feroz: Ist es aus Sicht vieler unterdrückten Gruppen dennoch nicht nachvollziehbar, dass “die Juden” ihren eigenen Staat haben und dass das im Grunde genommen eine gute Sache ist?
Mishra: Ja, natürlich. Aber diese Frage ist nicht in gutem Glauben gestellt. Juden haben tatsächlich ein größeres Recht auf ihren Nationalstaat als viele andere historisch unterdrückte Minderheiten. Aber dieser Nationalstaat – wie jeder andere auch – hat kein Recht, gewalttätig und unterdrückerisch zu werden oder täglich Kriegsverbrechen zu begehen. Weiterlesen bei overton-magazin.de
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