“Man hat uns den Staat gestohlen” Von Moshe Zuckermann

Dank an Moshe Zuckermann, seinen heute auf Overton-Magazin veröffentlichten Artikel , auf der Hochblauen Seite zu übernehmen. Evelyn Hecht-Galinski

https://overton-magazin.de/top-story/man-hat-uns-den-staat-gestohlen/

“Man hat uns den Staat gestohlen”

Aviv Gaffen (2016). Bild: Nir.roitman/CC BY-SA-4.0

In Israel grassiert seit Jahren der Slogan “Man hat uns den Staat gestohlen”. Ein merkwürdiger Spruch – vermeintlich politisch, und dennoch im Wesen apolitisch.

 

Der israelische Soziologe Baruch Kimmerling prägte im Jahr 2001 einen äquivalenten hebräischen Begriff zum amerikanischen WASP (White, Anglo-Saxon, Protestant), indem er das Akronym für die hebräischen Kategorien Aschkenasisch-Säkular-Alteingesessen-Sozialistisch-Nationalistisch etablierte. Er wies darauf hin, daß die Hegemonie der in Israel traditionell herrschenden Elite dabei war, ihre Macht zu verlieren. Es handelte sich (pauschal gesagt) um die Schicht der Staatsgründergeneration, die aus aschkenasischen, säkularen, alteingesessenen Juden, z.T der sozialistischen Kibbutzbewegung entstammend und zionistisch-nationalistisch gesinnt, bestand.

Für den historisch forschenden Kimmerling hatte diese Elite abgedankt, was nicht zuletzt mit dem Machtwechsel im Jahre 1977 zusammenhing: Die Likud-Partei gelangte an die Herrschaft und machte sich (obgleich selbst von aschkenasischen Politikern angeführt) zum Sprachrohr der in den 1950er Jahren (also nach der Staatsgründung) aus orientalischen Ländern in Israel eingewanderten Juden, wobei die Partei eine antisozialistische, dezidiert kapitalistische wirtschaftliche Gesinnung vertrat.

Die Israelis orientalischer Provenienz (das sogenannte “zweite Israel”), die sich gesellschaftlich unterprivilegiert wähnten, und (aus der Chronik der jüdischen Einwanderungswellen seit der Heraufkunft des politischen Zionismus im 19. Jahrhundert erklärbar) in der Tat die sozio-ökonomisch unteren Schichten der israelischen Gesellschaft bevölkerten, sahen ihre Zeit gekommen. Dass dabei ein ethnisch begründetes Ressentiment eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte, kann nicht infrage gestellt werden. Und zwar beidseitig. Slogans wie “aschkenasischer Rassismus” und “Zurückgebliebenheit” bzw. “Primitivität” der orientalischen Juden durchwirkten, teils latent, teils explizit den öffentlichen Diskurs, wobei man nicht mit Klischees und unzulänglichen Stereotypen sparte. Und da die Likud-Partei und ihre “orientalische” Anhängerschaft seit 1977 fast durchgehend die Herrschaft in Israel innehatten, verlor die traditionelle, noch vor der Staatsgründung entstandene Elite nach und nach an Macht. Nicht von ungefähr kam bei ihr ab einem bestimmten Zeitpunkt der Spruch auf: “Man hat uns den Staat gestohlen.”

In der Gedenkveranstaltung zum 7. Oktober, die letzte Woche im Tel Aviver Stadtpark stattfand (ich berichtete über sie im letzten Blog) traten viele Sänger und Sängerinnen auf, unter ihnen auch der in Israel populäre Songwriter und Performer Aviv Geffen. Geffen entstammt einer Familie, die man gemeinhin als “israelische Aristokratie” apostrophiert: Seine Großmutter war die Schwester von Moshe Dayan; sein Vater ist in einem der legendären Siedlungen der prästaatlichen Ära Israels geboren. Der Vater trat als kritischer Autor der politischen Zustände im zionistischen Staat auf; schrieb auch wichtige Songtexte in gleicher Gesinnung.

Der Sohn bemühte sich um eine Fortsetzung dieser Haltung, aber gebärdete sich letztlich als pseudo-revoluzzerischer Sänger, der Klischees der westlichen Popszene epigonal verwertete; in den 1990er Jahren mutierte er zum Idol der israelischen Jugend, als er larmoyant-prätentiös auf Hebräisch eine Parole brüllte, die sich ins amerikanische Englisch am besten als “We are a fucked-up generation” übersetzen lässt. In den folgenden Dekaden durchlief er alle Phasen der kulturindustriellen Vereinnahmung und Kommerzialisierung, und seine “politischen” Energien mündeten zuletzt im Bestreben, eine nationale Versöhnung zu fördern, indem er sich bei den Siedlern im Westjordanland dafür entschuldigte, dass er die Berührung mit ihnen jahrelang “aus Ignoranz” gemieden hatte.

In der Gedenkveranstaltung trug Aviv Geffen einen neuen, “Verkehrtes Land” betitelten Song vor, in dem er sich, Banalitäten intonierend, pseudo-ideologiekritisch gibt. Die letzte Strophe des Songs lautet “Man wird uns nicht die Fahne stehlen / aber man hat den Staat gestohlen / Das kann nicht anders sein / im verkehrten Land.” Es lohnte sich nicht sonderlich, dem Song allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken (auch nicht seinem Verfasser), wenn er nicht die Zeile “man hat uns den Staat gestohlen” enthielte. Denn diese birgt in sich eine politische Tiefendimension, von der gleichwohl weder Geffen noch wohl die allermeisten seiner begeisterten ZuhörerInnen etwas ahnen.

Denn schon bei der Generation der Staatsgründer indizierte der Spruch vom Staat, der ihnen gestohlenen wurde, eine erstaunliche Blindheit. Wie kamen sie dazu, den Staat als den ihren und nicht als den all seiner Bürger zu sehen, mithin einen Besitzanspruch zu artikulieren, der von einer vom ethnischen Ressentiment gesättigten Arroganz zeugte? Man könnte einwenden, dass es immerhin sie tatsächlich waren, die die Infrastruktur für den potentiellen Staat gelegt und im 1948er Krieg um seinen Erhalt gekämpft hatten. Aber macht diese (wie gesagt) sich aus der Chronik der zionistischen Einwanderungswellen erklärbare historische Tatsache sie auch schon zu Eigentümern des Landes? Mehr noch: Hatten sie sich nicht allesamt der zionistischen Doktrin verschrieben, dass der Staat für alle Juden in der Welt errichtet werde? Hatten nicht gerade sie (bzw. die politische Führung aus ihren Reihen) die Einwanderung der Juden aus den arabischen Ländern in den neugegründeten Staat initiiert, um die demographischen Verhältnisse gegenüber (und gegen!) die Palästinenser zugunsten der Juden zu verändern?

Was sich aber schon bei der Generation der ersten Stunde als ideologisch verquer ausnimmt, erweist sich bei Aviv Geffen (bzw. dem Publikum, das er in seinem Song anspricht) als völlig absurd, zeugt mithin von einer Unfähigkeit, das, was dem innerisraelischen Wir-ihr-Paradigma zugrunde liegt, im Wesen zu erfassen.

Denn insofern mit dem “gestohlenen Staat” eine wahre Demokratie und in liberal aufgeklärten Koordinaten fungierende Zivilgesellschaft, deren sich die regierenden Faschisten und ihre ideologischen Handlanger bemächtigt hätten, gemeint ist, dann ist das schon lange eine eher erbärmliche Chimäre. Israel ist schon seit Jahrzehnten keine Demokratie und hat der Entfaltung einer genuinen Zivilgesellschaft immer wieder Grenzen gesetzt bzw. sie dezidiert vereitelt. Eine Gesellschaft, die über die längste Zeit ihres Bestehens eine barbarische Okkupation unterhält, mithin die systematische Knechtung eines anderen Volkes hinnimmt und somit ganz bewusst eine Apartheidrealität schafft und absegnet, kann weder eine Demokratie sein noch den Anspruch erheben, als eine solche anerkannt zu werden.

Dass Israel gerade dies der “Welt” stets abforderte und von der “Welt” in dieser Hinsicht bedient wurde (allen voran von Deutschland und den USA), beruht nicht nur auf einem verzerrten Selbstbild Israels, sondern auf einer ideologisch aufgebauten und gefestigten Lebenslüge. Und an dieser haben, spätestens seit dem Pyrrhussieg von 1967, alle israelischen Regierungen, welcher Couleur auch immer, kräftig gearbeitet.

Die jüdische Besiedlung der besetzten Gebiete durch messianische Nationalreligiöse wurde von den sie vertretenen Parteien nicht minder gefördert, als von den säkularen Parteien, die mit ihnen ideologisch vermeintlich nichts zu schaffen haben – die von einer Großisrael-Ideologie geleitete rechte Likudpartei und die auf “Sicherheit” spezialisierte sozialdemokratische Arbeitspartei waren in dieser Hinsicht (trotz politischer Dauerkämpfe um die Macht) in imaginärem Verbund.

Und das gilt auch für die Generation von Aviv Geffen. Als Yitzhak Rabin am 4. November 1995 von einem rechtsradikalen Fanatiker aus dem Siedlermilieu ermordet wurde, stand ganz Israel unter Schock. Auf dem großen (heute nach Rabin benannten) Platz versammelten sich Massen von Jugendlichen, die unter der Parole “Eine ganze Generation will den Frieden” (dor schalem rotze schalom) bei Kerzenschein eine Woche lang traurige Lieder sangen, viel weinten, Vielversprechendes gelobten und eine emotionale Trauergemeinschaft bildeten, um sich nach einer Woche mehr oder minder in Wohlgefallen aufzulösen.

Von einer praktischen politischen Emphase keine Spur mehr, dagegen machte eine von oben orchestrierte Kampagne für “nationale Versöhnung” die Runde im ganzen Land, um den durch die Mordtat Israel entstandenen “Riss” zu überwinden – mit großem Erfolg: In den nachfolgenden Parlamentswahlen schaffte es Shimon Peres von der Arbeitspartei (deren Premier jüngst ermordet worden war) die Wahl zu verlieren. Neuer Premierminister wurde Benjamin Netanjahu, einer der perfidesten Haupthetzer gegen Rabin. Er hat diese Woche angekündigt, bei der im nächsten Monat erfolgenden staatlichen Zeremonie zum Andenken an die Ermordung Rabins keinen Kranz niederlegen zu wollen – die Veranstaltung sei zu politisch.

Dass Yitzhak Rabin, der Premier, der ermordet wurde, weil er mit Yassir Arafat (vielleicht!) eine politische Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt anstrebte, in der heutigen Politrhetorik eines Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich als “Oslo-Verbrecher” apostrophiert wird, indiziert, wie absurd das Diktum vom “gestohlenen Staat” ist: Der Kahanist Ben-Gvir und der messianische Faschist Smotrich sind keine Außenseiter mehr, sie sitzen an den Schalthebeln des zionistischen Staates. Die Partei, die Rabin einst führte, ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Eine ernstzunehmende Opposition gegen die herrschende Regierung ist kaum bemerkbar, und insofern sie (etwa mit Yair Lapid) hier und da ein wenig aufmuckt, erschöpft sich ihre oppositionelle Energie und entschwindet vollends spätestens, wenn es um die Okkupation und die politische Lösung des Konflikts mit den Palästinensern geht. Wer soll da wem welchen Staat gestohlen haben?

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