Normalisierung des Anomalen Moshe Zuckermann

Dank an Moshe Zuckermann die Genehmigung der Übernahme seines neuen Overton-Magazin Artikel, auf der Hochblauen Seite. Evelyn Hecht-Galinski

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Normalisierung des Anomalen

Nach einem israelischen Angriff auf die nördliche Gaza-Stadt. Bild: Times of Gaza

Israels Verteidigungsminister ist zweimal entlassen worden, einmal im März 2023, das zweite Mal im November 2024. Was ist in der Zwischenzeit geschehen?

 

Vergleicht man die Reaktion auf die erste Entlassung des israelischen Verteidigungsministers Yoav Gallant durch Premierminister Benjamin Netanjahu im März 2023 mit der Reaktion auf die zweite und endgültige im November 2024, so fällt der Unterschied in der Massivität und Vehemenz der beiden Ereignisse auf.

Während die Nachricht von der Entlassung im Jahre 2023 eine spontane Reaktion von rund 200.000 Israelis zeitigte, die mehrere Tage anhielt und durch eine solche Demonstrations- und Protestintensität gekennzeichnet war, dass sich Netanjahu gezwungen sah, den Vollzug der bereits ausgesprochenen Entlassung aufzuschieben. Gallant blieb de facto im Amt. Als es nun zur endgültigen Entlassung kam, gab es zwar wieder eine Nacht von Demonstrationen nach dem Vorbild der ersten, an denen sich aber deutlich weniger Menschen beteiligten, und die nach dieser Nacht abebbten. Es mochte scheinen, als handle es sich eher um eine Pflichtübung – die emphatische Verve war nicht mehr da. Die erste Entlassung wurde mit der Behauptung Gallants begründet, der damals von Benjamin Netanjahu und seinem Gesinnungsumfeld versuchte Staatsstreich gefährde Israels Sicherheit.

Man hat es schon vergessen, aber vor dem 7. Oktober war Israel neun Monate lang durch Dauerdemonstrationen gebeutelt, die sich mit aller verbliebenen zivilgesellschaftlichen Kraft gegen Auflösung und Zerstörung der ohnehin arg geschwächten formalen Demokratie des zionistischen Staates aufbäumten; es handelte sich um den Versuch eines Staatsstreichs, der von Netanjahus rechtsradikalen Regierungskoalition als Justizreform ausgegeben wurde. Schon damals geriet Gallant ins Visier der Netanjahu-Familie und der Giftmaschine der Bibisten (= Anhänger Netanjahus, die für eine autoritäre Politmentalität des Kadavergehorsams stehen). Indem er sich durch eine Position profilierte, die eine ehrliche Sorge um die Sicherheit des Landes bekundete (Reservisten, auch Kampfpiloten der Reserve hatten angedroht, sich nicht mehr dem freiwilligen Dienst zu stellen), unterwanderte er das Ansinnen des Regierungschefs, die israelische Justiz aus persönlichem Interesse zu schwächen und an entscheidender Stelle zu demontieren. So wurde Gallant zum Feind erklärt, den es zu bekämpfen und auszuschalten galt.

Dann kam der 7. Oktober. Schuldig an diesem Desaster wurden die gesamte Regierungskoalition sowie die Armee und die Geheimdienste. Der dann folgende brutale Krieg im Gazastreifen war kein günstiger Zeitpunkt, um die zwar aufgeschobene, aber mitnichten aufgehobene Entlassung Gallants zu vollziehen. Wenn die Kanonen dröhnen… etc. Stattdessen bediente sich Netanjahu (und sein ergebenes Umfeld) schon bald nach der Katastrophe einer neuen Taktik, um Gallant loszuwerden: Da die Schuld- und Verantwortungsfrage die ganze Zeit in der Luft schwebte und (zumindest eine Zeitlang) von den Medien immer wieder thematisiert wurde, ging es Netanjahu um nichts dringlicher, als darum, die Schuld von sich auf die Armee und Geheimdienste abzuwälzen.

Vertreter der Armee war nun aber günstigerweise Verteidigungsminister Gallant. Der ließ sich “zuschulden” kommen, dass er bereits im Juni dieses Jahres bekundete, die in Hamas-Gefangenschaft befindlichen israelischen Geiseln könnten nicht militärisch, sondern müssten im Rahmen eines Deals mit der Hamas befreit werden. Dass dies mit der Beendigung des Krieges oder zumindest mit einem längeren Waffenstillstand zu gehen hätte, sah weder er noch der unter ihm amtierende Generalsstabschef als Problem an – was es militärisch im Gazastreifen zu erlangen galt, sei bereits erlangt worden, hieß es. Das war nun aber genau, was Netanjahu brauchte, um Gallant zu desavouieren und ihn zu “köpfen”. Denn die Beendigung des Krieges ist für den israelischen Regierungschef eine unerträgliche Vorstellung: Sie würde Neuwahlen, Macht- und Herrschaftsverlust sowie die rasantere Fortsetzung seines Prozesses bedeuten, bei dessen Beendigung eine Gefängnisstrafe nicht ausgeschlossen ist.

Das will wohlverstanden sein: Es geht bei Netanjahu und Gallant nicht um entgegengesetzte politische Gesinnungen. In der zentralen und wesentlichen Frage der israelischen Politik – der Besatzung der palästinensischen Gebiete und der damit einhergehenden politischen Lösung des Konflikts mit den Palästinensern – unterscheidet sich Gallant mitnichten von Netanjahu oder von irgendeiner anderen gewichtigen Figur in Israels politischer Klasse (die Oppositionsführer eingeschlossen). Aber in den statistischen Erhebungen, die das gesamte Kriegsjahr über von den Medien durchgeführt wurden, schnitt Gallant stets deutlich besser ab als der verhasste Netanjahu: Auf ihn könne man sich besser verlassen, er sei honoriger, nicht korrupt und habe vor allem die nötige Empathie gegenüber den Geiseln und ihren Angehörigen gezeigt.

Die Vormachtstellung Netanjahus in der Likud-Partei ist zwar unangetastet, aber der stets paranoide und daher auch politisch gewieft übersensibilisierte Premier muss in Gallant einen bedrohlichen Gegner wittern, den es kaltzustellen gilt. Trotz seiner Popularität beim Gros der israelischen Bevölkerung musste also der Verteidigungsminister (mitten im Krieg) gehen, um dem militärisch völlig unerfahrenen und von einigen nicht unbedeutenden Publizisten als “Dummkopf” betitelten Israel Katz seinen Platz zu räumen.

Wie ist das möglich? Diese Frage bezieht sich nicht auf die moralischen Standards Netanjahus (er hat keine), auch nicht auf die Perfidität der Manipulationsstrategien seines Umfeld und der von dieser effektiv betriebenen Giftmaschinerie. Zu fragen gilt es vielmehr, warum die israelische Bevölkerung grosso modo das alles hinnimmt. Mit Bezug auf das bisher Dargelegte lässt sich fragen, was zwischen März 2023 und November 2024 in der Bevölkerung vorgegangen sei, dass sie sich nicht nur mit Gallants Entlassung (diese ist letztlich nur Symptom), sondern mit allen Schand- und Untaten dieser Regierung, von der schon heute feststeht, dass sie die unfähigste und verbrecherischste der gesamten israelischen Parlamentsgeschichte ist, abfindet.

Wieso findet man sich damit ab, dass die Geiseln im Gazastreifen nach und nach verrecken, und der Deal, der sie hätte loslösen können, von der Regierung unterwandert wurde, und die daraufhin in großer Not aufschreienden Angehörigen von der bibistischen Giftmaschine mittlerweile als Verräter diffamiert werden? Wieso findet man sich damit ab, dass die Riesenmasse an Evakuierten im Norden des Landes über lange Monate von der Regierung unbeachtet geblieben ist? Wieso findet man sich damit ab, dass der Krieg fortgesetzt wird, obgleich gerade die Militärinstanzen darauf hinweisen, dass man militärisch nicht mehr erreichen kann, als was bis jetzt erreicht worden ist – dies umso mehr, als täglich israelische Soldaten sowohl im Gaza als auch im Libanon fallen und verletzt werden? Wieso findet man sich damit ab, dass die vermeintlich fallengelassene “Justizreform”, d.h. der Staatsstreich, unentwegt vorangetrieben wird und sich zunehmend abzeichnet, dass Israel auf eine Netanjahu-Diktatur zutreibt? Wieso findet man sich damit ab, dass Israel den Horror im Gazastreifen unhinterfragt betreiben, die Armee mithin abscheuliche Kriegsverbrechen begehen konnte (bzw. noch immer kann) und Israel daher immer mehr zum Pariastaat in der Welt verkommen ist? Die Liste dieser Fragen ließ sich noch lange fortführen.

Der Ausnahmezustand wird zur Normalität erhoben bzw. als solche hingenommen

Zur Beantwortung jeder einzelnen Frage könnte ein spezifischer Grund angeführt werden. Ihnen allen liegt aber eine Matrix zugrunde, die in der Tat eine Metamorphose indiziert, die die israelische Gesellschaft zwischen März 2023 und November 2024 durchlaufen hat. Denn es handelt sich nicht nur um eine Ermattung der zivilgesellschaftlichen Emphase, die da am Werk ist, auch nicht nur um Ohnmacht und Verzweiflung der Einzelnen gegenüber der lawinenartig zunehmenden Faschisierung der Gesellschaft und der Politik Israels, sondern vor allem um den Wandel in der Wahrnehmung: Das Anomische der israelischen Gesellschaft wird immer mehr normalisiert, der Ausnahmezustand zur Normalität erhoben bzw. als solche hingenommen.

Wie das im Einzelnen sich zuträgt, bleibe hier unerörtert, aber ich muss letztens immer öfter an etwas denken, das mir eine befreundete Bekannte, die 1939 von Berlin nach Palästina emigriert war, vor Jahren sagte. Gefragt, wieso ihre Familie sich zur Auswanderung erst nach der Pogromnacht von November 1938 entschlossen habe, schon vorher seien doch die von den Nazis an den Juden verübten Schikanen Zeichen genug gewesen, woran man sei, antwortete sie: “Am 30. Januar 1933 sind mein Kindheit und frühe Jugend zu Ende gegangen, eine graue Wolke schwebte von da an über sie. Aber man konnte auch noch unter diesen Verhältnissen weiterleben.” Meine Frage bezog sich auf die rund 120.000 Juden, die nicht ausgewandert und dann in die Lager deportiert wurden. Aber obwohl man im nachhinein kaum begreifen kann, wieso diese deutschen Juden die real drohende Gefahr nicht erfasst haben, gab es offenbar die lebensweltliche Möglichkeit für Juden sich im Ausnahmezustand einzurichten, mithin einen zur “Normalität” geronnenen Alltag zu durchleben – selbst im Nazideutschland vor der Massenvernichtung.

Im heutigen Israel ist die über Jahrzehnte eingefräste Ideologie noch so wirksam, daß selbst jene, die besonders alarmiert sein müssten, sich lieber einreden, dass es schon nicht gar so schlimm kommen und auch der Bibismus früher oder später vergehen werde. Man hat sich offenbar der Gewöhnung verschrieben. Die Kriegsverbrechen der IDF kann man noch mit dem 7. Oktober rationalisieren und bringt dafür auch zweckrationales “Verständnis” auf. Mit allem anderen im Innern des Landes – vom permanenten Raketenbeschuss über den Verrat an den Geiseln und ihren Angehörigen, die zunehmende Brachialität der Polizeigewalt, die Verwilderung der parlamentarischen Rhetorik und der Unverfrorenheit interessengeleiteter Regierungsbeschlüsse bis hin zur sich anbahnenden Wirtschaftskatastrophe und zum Ruin der eigenen beruflichen Existenz – kann man sich arrangieren. Man muss es nur wahrnehmungsmäßig normalisieren. Man ist ohnehin ohnmächtig. Auch die Ohnmacht kann man normalisieren; besser als an ihr zu verzweifeln. Und selbst die Verzweifelten haben ihr Leiden an der Realität schon in eine routinemäßige Alltäglichkeit münden lassen: Verzweiflung als Normalität. Auch so, mittels der Normalisierung des schockierend Anomalen, lässt sich der Faschismus etablieren – und lässt es sich in ihm überwintern. Heute wie ehedem.

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