
Patrick Lawrence: Der verlorene Mann von Europa
8. April 2025
Deutschland demonstriert, wie der Kontinent seine ehrenwerten sozialdemokratischen Traditionen aufgibt und sich mit dem Eifer eines Konvertiten dem Neoliberalismus der Anglosphäre anschließt.
Friedrich Merz, Julia Klöckner; CDU ZUKUNFTSKONGRESS am 27.04.2023 in Berlin. (Dr. Frank Gaeth/Wikimedia Commons/CC BY-SA 4.0)
Der erste einer Reihe von Artikeln über Deutschland.
Von Patrick Lawrence
Unterden vielen Äußerungen – aufschlussreichen, klugen und auch törichten -, die am Sonntagabend, dem 23. Februar, nach der Bundestagswahl gefallen sind, war für mich der Ausruf des neuen Rektors der Bundesrepublik am bemerkenswertesten.
„Wir haben gewonnen“, erklärte Friedrich Merz vor seinen Anhängern in Berlin, als die Wahlumfragen, die sich als richtig erwiesen, der konservativen Christlich Demokratischen Union den größten Stimmenanteil bescheinigten.
Merz gehört zu den politischen Persönlichkeiten, die gerne reden, bevor sie denken, und niemand scheint diesen Ausbruch für mehr gehalten zu haben als die Wahlnachtspredigt eines überschwänglichen Siegers. Ich habe es anders gehört.
Für mich verrieten Merz‘ vier Worte eine Nation in der Krise: ihre Politik und Wirtschaft im Chaos, ihre visionslose Führung, ihr allgegenwärtiges Unbehagen, die sich vertiefenden Brüche unter den 83 Millionen Menschen in Deutschland – Deutschlands Unfähigkeit, sagen wir mal, mit sich selbst zu reden oder auch nur zu verstehen, was es bedeutet, zu sagen: „Wir haben gewonnen“.
Mit „wir“ meint der unbedarfte Merz die CDU, die er anführt, und ihren langjährigen Partner, die Christlich Soziale Union. Aber wie eng ist diese Vorstellung vom Gewinnen für jemanden, der vorgibt, nicht nur ein nationaler Führer zu sein, sondern ein Führer Europas?
Die CDU/CSU erhielt nicht ganz 29 Prozent der Stimmen, gerade genug, um eine neue Regierungskoalition zu bilden. Damit bleiben 71 Prozent der deutschen Wähler, die nichts gewonnen haben.
Das „Wir“ des nächsten Kanzlers – um gleich auf die größere Bedeutung der deutschen Wahlen einzugehen – sollte uns alle im Westen alarmieren, nicht nur in Deutschland, wenn man bedenkt, wohin Merz und seine Koalitionspartner die Bundesrepublik führen wollen.
Sie haben ihre radikalen Absichten schon vor Merz‘ offiziellem Amtsantritt deutlich gemacht. Sie wollen die fortschrittlichste Sozialdemokratie in Europa zugunsten einer raschen, radikalen Aufrüstung – die angesichts der deutschen Geschichte an sich schon schockierend ist – und einer Rückkehr zu den stets gefährlichen Feindseligkeiten des Kalten Krieges demontieren.
Die Geschwindigkeit dieser Wende scheint alle zu überraschen: Am Montag, dem 1. April, begann die Bundeswehr mit der Stationierung einer Panzerbrigade in Litauen, dem ersten langfristigen Einsatz deutscher Truppen im Ausland seit dem Zweiten Weltkrieg.
Die Geschichte, die ich in dieser Serie immer wieder beschwöre, spukt wie ein Gespenst durch diesen transformativen Moment.
Es gibt viele, die in der Nachkriegsrepublik das Versprechen sahen, dass die transatlantische Welt eine neue Richtung einschlagen könnte, dass der Westen – ich werde mich hier kurz fassen – eine humanistischere oder humanisiertere Form der Demokratie kultivieren könnte.
In den 1960er Jahren entwickelte Ludwig Erhard, Wirtschaftsminister unter Konrad Adenauer, die soziale Marktwirtschaft, ein Modell, das in erheblichem Gegensatz zu dem Fundamentalismus der freien Marktwirtschaft stand, den die Vereinigten Staaten zu diesem Zeitpunkt der Welt aufzwangen.
Es machte die Gewerkschaften stark und verschaffte den Arbeitnehmern unter anderem Sitze in den Aufsichtsräten der Unternehmen, was den Gedanken aufkommen ließ, dass die sozialdemokratische Tradition Europas endlich die Exzesse des Kapitalismus zähmen könnte.
Adenauer und Erhard im Jahr 1956. (Bundesarchiv/Wikimedia Commons/ CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de)
Ostpolitik
In den späten 1960er Jahren entwickelte der sozialdemokratische Außenminister und spätere Kanzler Willy Brandt seine lange Zeit gefeierte Ostpolitik, eine Politik der Öffnung der Bundesrepublik gegenüber den Ostblock-Nachbarn und der Sowjetunion.
Dies war nicht nur eine Absage an Washingtons Binärsystem des Kalten Krieges, sondern auch eine entschiedene Antwort auf die antirussischen Ressentiments, die die deutsche Geschichte ein Jahrhundert lang geprägt haben.
Wenn man diese Geschichte kennt, muss man die Wahlen im Februar als eine Niederlage von beträchtlichem Ausmaß anerkennen, die wiederum weit über das vor kurzem noch mächtigste Land Europas hinausgeht.
Friedrich Merz und seine Koalitionspartner – zu denen auch eine Sozialdemokratische Partei gehören wird, die sich feige von der Tradition verabschiedet hat, die sie einst vertrat – haben mehr, viel mehr als die Vergangenheit der Bundesrepublik aufgegeben.
Jeder, der die Hoffnung hegte, dass der Kontinent als Wegweiser zu einer geordneteren Welt dienen könnte, ist nun in gewisser Weise beraubt und hat einen Grund weniger zu hoffen, dass der wandernde Westen seinen Weg aus dem Kreislauf des Niedergangs, in den er geraten ist, finden wird.
Brandt, links, und Willi Stoph in Erfurt 1970, die erste Begegnung eines Bundeskanzlers mit seinem ostdeutschen Amtskollegen, ein früher Schritt zur Deeskalation des Kalten Krieges. (Bundesarchiv, CC-BY-SA 3.0, Wikimedia Commons)
Merz ist ein Mann der Widersprüche, was ihn freilich weder in Deutschland noch anderswo im Westen unter den Politikern der Mitte auszeichnet. Er wird nun als der hoffnungslos widersprüchliche Führer des deutschen Volkes ausgezeichnet werden.
Seine dringlichste innenpolitische Aufgabe ist die Wiederbelebung einer Wirtschaft, die die neoliberale Koalition unter der Führung seines glücklosen Vorgängers Olaf Scholz fast in den Ruin getrieben hat. Nehmen Sie Platz, wenn sich dieses Desaster anbahnt.
Merz ist ein vehementer Russenhasser – er ist in dieser Hinsicht so energisch wie kein anderer Politiker der Nachkriegszeit, wie mir gesagt wurde – und er ist fest entschlossen, Deutschlands Unterstützung für den Krieg in der Ukraine zu verstärken.
Die deutsche Wirtschaft kann jedoch nur dann wieder zum Leben erweckt werden, wenn Deutschland entschlossen ist, seine enge, ganz natürliche Verflechtung mit Russland wiederherzustellen, vor allem, aber nicht nur, im Energiebereich.
Der Rückgriff auf den Aufbau einer Billionen-Euro-Kriegsmaschinerie ist ein unfassbarer politischer Verzweiflungsakt: Inwieweit er als Konjunkturprogramm Erfolg hat, wird sich daran messen lassen, inwieweit er die deutsche Sozialdemokratie zerstört und – nicht zu übersehen – die Regierung mit enormen Schulden belastet.
Was die Torheit des von den USA angezettelten Stellvertreterkriegs in der Ukraine betrifft, so wird jede Verpflichtung der neuen Regierung zur weiteren Unterstützung des korrupten, nazifizierten Regimes in Kiew – finanzielle Unterstützung, militärische Unterstützung, politische Unterstützung, diplomatische Unterstützung – einen größeren Teil der deutschen Bürger entfremden.
Unfähig zum Wandel
Der ukrainische Präsident Volodymyr Zelensky mit Merz in Kiew am 9. Dezember 2024. (Präsident der Ukraine/Wikimedia Commons/CC0)
Deutschlands Dilemma ist das des Westens, nur in verschärfter Form: Es muss sich ändern, es muss eine neue Richtung einschlagen – seine Wähler fordern dies -, aber Deutschland kann sich in seiner derzeitigen Führungsstruktur nicht ändern.
Deutschland ist unter den westlichen Mächten wohl insofern einzigartig, als das ständige Hin und Her der Zentristen – wenn ich die Metaphern vermischen darf – nicht länger ein gangbarer Weg ist. Die Nation hat dafür einfach keine Zeit, wenn sie einen immer schnelleren Niedergang vermeiden will.
Eine bemerkenswerte Zahl deutscher Wähler wechselte im Februar von einer Partei zur anderen – Wählerwanderung nennt man dieses Phänomen -, was auf den ersten Blick wie ein perverses Himmelfahrtskommando aussieht.
Die meisten Wähler, die den Sozialdemokraten den Rücken kehrten – und das waren sehr viele, wie der Einbruch der SPD-Zustimmung zeigt – gingen entweder zur CDU/CSU (letztere ist im konservativen und katholischen Bayern verwurzelt) oder – ob Sie es glauben oder nicht – zur Alternative für Deutschland (AfD), dem populistischen, rechten Gegenspieler der lange regierenden Sozialdemokraten.
Es wird noch merkwürdiger, so eine Analyse, die ein Wahlkampfkommentator namens Florian Rötzer zitiert:
„Viele aus der CDU/CSU sind zwar zur AfD gewechselt, aber seltsamerweise auch zu DieLinke und dem BSW [dem links-populistischen Bündnis Sahra Wagenknecht]. Die Linke hat massiv zugelegt, aber ehemalige [Die Linke]-Wähler sind zu einem geringeren Teil zur AfD und zu einem größeren Teil zur BSW gewechselt.“
Die Grünen– neben den Sozialdemokraten die großen Verlierer des 23. Februar – gaben ihre Wähler an Die Linke ab, was durchaus vorhersehbar war, aber auch an die AfD.
Ich sehe nicht, dass dieses unmöglich zu lesende Muster als etwas anderes als eine gemeinsame Verzweiflung bezeichnet werden kann. Und nun sehen Sie. Die Koalition, die Merz mit den Sozialdemokraten zu bilden gedenkt, verrät eine geradezu absurde Gleichgültigkeit gegenüber dem, was die deutschen Wähler gerade gesagt haben.
Meiner Meinung nach ist sie jedoch eher als ein Zeichen der Angst der deutschen Regierungseliten zu verstehen. Die SPD ist auf den dritten Platz in der deutschen politischen Konstellation gefallen, mit 30 Sitzen weniger im Bundestag als die AfD. Aber letztere, jetzt Deutschlands zweitstärkste Partei, wird durch die antidemokratische „Brandmauer“, die Deutschlands neoliberale Zentristen nicht zu entfernen scheinen, von der Regierung ferngehalten werden.
Unterm Strich bedeutet dies: Die Regierung, die im letzten Herbst zusammengebrochen ist, eine nominell linke Koalition neoliberaler Parteien unter Führung der Sozialdemokraten, wird nun von einer Koalition neoliberaler Parteien unter Führung der Christdemokraten der rechten Mitte abgelöst, die mit ziemlicher Sicherheit die Sozialdemokraten einschließt.
Dies wird eine direkte Reproduktion des äußerst unpopulären Bündnisses sein, das bis 2021 regierte. Die europäische Version von Tweedle-Dee und Tweedle-Dum hat noch nie so gut ausgesehen.
Schon lange vor den Wahlen im Februar, als bereits klar war, dass die unfähige neoliberale Führung die Wirtschaft aus reinem ideologischen Eifer rücksichtslos geschädigt hatte, bezeichneten Kommentatoren verschiedener Couleur die Bundesrepublik als den kranken Mann Europas.
Wir können jetzt etwas Besseres tun als dieses müde Klischee: Es ist sinnvoller, Deutschland als den verlorenen Mann Europas zu bezeichnen.
Hier ist Patrik Baab, ein prominenter deutscher Journalist und Autor – und ein Mann von erwiesener Integrität in seinen Urteilen, möchte ich hinzufügen – in der Wahlnacht:
„Die Deutschen haben heute Abend nicht den Stillstand gewählt, sondern den Niedergang. Ein Volk führt sich selbst zu seinem eigenen Untergang. Wir werden jetzt noch mehr davon bekommen. Die Kriegspolitik der europäischen Eliten soll fortgesetzt werden. Der wirtschaftliche Niedergang wird sich fortsetzen, denn billige Energie und damit ein gutes Verhältnis zu Russland sind notwendig, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Daran wird sich im Moment nichts ändern….“
Ich möchte Patriks knappen Ausführungen nur hinzufügen, dass ich, wie sehr die Deutschen auch auf ihren Untergang zusteuern, die unverrückbaren neoliberalen Zentristen der Nation an der Spitze der Kolonne sehe.
Das Nachkriegsdeutschland war wohl – und ich würde dieses Argument ohne zu zögern vorbringen – der Inbegriff von Europas tiefem Bekenntnis zu einem sozialdemokratischen Ethos, das im deutschen Fall von der christlichen Soziallehre geprägt ist und seine Wurzeln in der Gärung der kontinentalen Politik des 19.
Frankreich und Deutschland waren, jeder auf seine Weise, der deutlichste Ausdruck der Distanz, die die Europäer zum angloamerikanischen Liberalismus, dem Neoliberalismus, wie wir ihn nennen, hielten.
Der Platz des Individuums war diesseits und jenseits des Ärmelkanals unterschiedlich. Die Freiheit wurde durch das Gemeinwesen erreicht, nicht durch die Freiheit von ihm. Den Operationen des Kapitals wurden Grenzen gesetzt. Die politische Ökonomie der Europäer war alles in allem humaner.
Nun zeigt Deutschland, dass der Kontinent seine ehrenwerten sozialdemokratischen Traditionen aufgegeben hat und sich mit dem Eifer des Konvertiten dem Neoliberalismus verschrieben hat, mit dem die Anglosphäre die westliche Welt belastet hat.
Wann, warum und wie hat die neoliberale Ideologie den Ärmelkanal – oder, was wahrscheinlicher ist, den Atlantik – überquert? Ich bin kein Wirtschaftshistoriker, aber ich erinnere mich, dass ich diese ideologische Migration im ersten Jahrzehnt nach dem Kalten Krieg festgestellt habe, als der amerikanische Triumphalismus in vollem Gange war.
Die Finanzkrisen unseres Jahrhunderts haben natürlich den Platz der neoliberalen Eliten des Kontinents gefestigt – derjenigen, die wir „Austerianer“ nennen, wenn wir ihre Ideologie in Politik umsetzen.
In den Monaten vor den Wahlen im Februar verbrachte ich mit freundlicher Unterstützung von Freunden und Kollegen einige Zeit in Deutschland. Ich habe tausend Fragen an Menschen gestellt, von deren Erkenntnissen ich sehr profitiert habe.
Und die Frage, die sich mir so eindringlich aufdrängte, war: Wie konnte es dazu kommen, dass Deutschland sich so weit von dem entfernt hat, was es einmal war? Diese eindringliche Frage werde ich in den folgenden Berichten mal so, mal so drehen.
– Ich danke Eva-Maria Föllmer-Müller und Karl-Jürgen Müller aus Bazenheid in der Schweiz für ihre schonungslose Unterstützung bei der Berichterstattung und beim Schreiben dieser Serie.
Patrick Lawrence, langjähriger Auslandskorrespondent, vor allem für die International Herald Tribune, ist Kolumnist, Essayist, Dozent und Autor, zuletzt von Journalists and Their Shadows, erhältlich bei Clarity Press oder über Amazon. Weitere Bücher sind Time No Longer: Amerikaner nach dem amerikanischen Jahrhundert. Sein Twitter-Konto, @thefloutist, wurde dauerhaft zensiert.
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Dieser Artikel stammt von ScheerPost.
Die darin geäußerten Ansichten sind ausschließlich die des Autors und spiegeln nicht unbedingt die von Consortium News wider.
Tags: Bundeswehr Christlich Demokratische Union (CDU) Christlich Soziale Union Friedrich Merz Konrad Adenauer Litauen Ludwig Erhard Ostpolitik Patrick Lawrence Soziale Demokratie Soziale Marktwirtschaft Willy Brandt
Übersetzt mit Deepl.com
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