Völkermord in Nahost: Statt Menschenrechte und Völkerrecht staatlich verordnete Zensur Annette Groth

Dank an Annette Groth für diesen Artikel

 

Völkermord in Nahost: Statt Menschenrechte und Völkerrecht staatlich verordnete Zensur

Annette Groth

25. November 2024

Am 1.11. 2024 titelte Mondoweiss, ein US-amerikanisches jüdisches elektronisches Journal: „Israels Massentötungskampagne in Gaza eskaliert“. In neun Tagen (zwischen dem 22. und 31.Oktober) hat die israelische Armee 639 Palästinenser getötet, – 71 Menschen täglich (!) und über 2,000 verletzt – mehr als 200 Palästinenser täglich. Laut dem Gesundheitsministerium in Gaza sind das nur diejenigen Toten, die man geborgen hat. Viele liegen noch unter den Trümmern, viele werde an ihre Verletzungen sterben. Ende Oktober stellte das israelische Militär in Nordgaza jegliche humanitären Hilfsleistungen ein, Krankenhäuser wurden evakuiert.  „Der Zivilschutz ist aufgrund der anhaltenden israelischen Beschusskampagne zwangsweise komplett zum Erliegen gekommen, Tausende von Bürgern sind ohne humanitäre und medizinische Versorgung“. 1)

Am gleichen Tag veröffentlichten die Leiter von 15 Uno- und privater Hilfsorganisationen einen Alarmruf: »Die gesamte palästinensische Bevölkerung in Nordgaza ist akut vom Tod durch Krankheit, Hunger und Gewalt bedroht. Die Lage im Norden Gazas ist apokalyptisch. Die Region ist seit fast einem Monat in einem Belagerungszustand. Der Bevölkerung werden selbst rudimentäre Unterstützung und überlebenswichtige Versorgungsgüter verwehrt, während die Bombardierungen und andere Angriffe anhalten.« 2)

Wie bereits dutzende Male vorher fordern die Organisationen auch jetzt einen sofortigen Waffenstillstand. Seit Oktober 2023 gibt es zahlreiche Aufrufe zum Waffenstillstand und einem sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen sowie alarmierende Meldungen zu der humanitären Katastrophe in Gaza, jetzt verstärkt auch im Libanon und in der Westbank, die alle ohne erkennbare Konsequenzen blieben. Statt Waffenlieferungen nach Israel zu stoppen oder sie zumindest einzuschränken, wurden sie aus Deutschland und den USA verstärkt,.

Es sollte allmählich auch der Bundesregierung dämmern, dass sich Israel schon lange nicht an das Völkerrecht hält, sondern offen und provokativ dagegen verstößt. Die Netanjahu-Regierung scheint nicht mit irgendwelchen Sanktionen, z. B. Aussetzen des EU-Israel Assoziierungsabkommens oder Kürzungen von Waffenlieferungen, zu rechnen. Also gehen Massaker und Bombardierungen in Gaza im Libanon und teilweise auch in Syrien und im Iran weiter.

Ungerührt verfolgt die israelische Regierung ihre Pläne für Gaza weiter, wie sie General Giora Eiland in der Zeitung Jediot Acharonot Anfang Oktober enthüllte. Demzufolge sollen Teile des Gazastreifens abgezäunte Lager werden, bewacht und verwaltet von einer privaten Söldnerfirma, die vom israelischen Geschäftsmann Mordechai Kahana geführte US-Firma Global Delivery Company (GDC). „Die Verteilung von Nahrung würde fortan in diesen Lagern stattfinden, zu denen nur Zugang erhält, wer sich von den Söldnern biometrisch erfassen lässt – einschließlich Fingerabdrücken, Gesichtserkennung und Stimmproben. Finanziert würde das Projekt voraussichtlich aus US-Steuergeldern und internationalen Spenden. Zunächst auf den Norden Gazas begrenzt, solle das Konzept der privaten Internierungslager im Anschluss auf das gesamte Gebiet der Küstenenklave ausgeweitet werden“. 3)

Wurde UNRWA, die für Palästinensische Flüchtlinge 1949 extra gegründete UN-Organisation in Israel verboten, um den Weg frei zu machen für absolute Kontrolle der Bevölkerung Gazas durch ein Unternehmen? Die Journalistin Noa Landau kommentiert in Haaretz: „Das Ziel ist, die moralische und rechtliche Verantwortung von Israel auf diese bewaffneten Milizen zu übertragen“. 4)

Wenn die internationale Gemeinschaft das zuließe, wäre es das endgültige Aus für das humanitäre Völkerrecht. Aber vielleicht ist das von einigen Regierungen gewollt, da es sich auch um ein Experiment mit neuen Technologien wie Gesichtserkennung und Stimmproben bei der Kontrolle von Menschen handelt: Ein weiterer Baustein im „Laboratorium Israel“, in dem seit vielen Jahren neue Waffen und Überwachungstechnologien erprobt und mit gutem Gewinn und dem Label „tested on the ground“  in alle Welt  verkauft werden.

Scharfe Kritik an dem UNRWA Verbot äußert Abdel Shafi, Botschafter Palästinas in Österreich und bei den Internationalen Organisationen in Wien: „Die Abstimmung der israelischen Knesset gegen die UNRWA ist beispiellos und stellt einen gefährlichen Präzedenzfall dar. Diese Entscheidung widerspricht klar der UN-Charta. Dies stellt nicht nur einen Schritt gegen das palästinensische Volk, sondern auch gegen Völkerrecht und die Weltgemeinschaft dar. Eine angemessene Reaktion darauf kann nur der Ausschluss Israels von den Vereinten Nationen sein. Denn ein Staat, der eine UN-Organisation als Terror-Organisation diffamiert und verbietet, sowie den UN-Generalsekretär als Persona non grata bezeichnet und ihm die Einreise verweigert, hat seinen Platz bei den Vereinten Nationen ein für alle Mal verwirkt.“ 5)

Sogar von der Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechte, Luise Amtsberg, kommt Kritik an dem UNRWA-Verbot: „Wenn die Gesetze in dieser Form von der israelischen Regierung umgesetzt würden, würde das die Arbeit von UNRWA in Gaza, im Westjordanland und in Ost-Jerusalem faktisch unmöglich machen.“  Es sei ein „gefährliches Signal der Missachtung der Vereinten Nationen und der internationalen Zusammenarbeit“. 6) Bislang bleibt die Kritik ohne Folgen.

Deutschland – ein Paria-Staat

Durch Deutschlands bedingungslose Unterstützung mit Waffen und weitreichenden Privilegien durch Handels- und Wissenschaftskooperationen sowie der Leugnung der Verstöße gegen das Völkerrecht begibt sich die Bundesregierung mit ihrer „regelbasierten Politik“ ins politische, globale Abseits. Deutschlands ehemaliges gutes Standing in der arabischen Welt ist nachhaltig zerstört, eine Vermittlerrolle ist nun ausgeschlossen.

Einen internationalen Eklat provozierte Außenministerin Baerbock, als sie in einer Rede vor dem Bundestag sagte, dass zivile Einrichtungen in Gaza „ihren Schutzstatus verlieren könnten“:  „Selbstverteidigung bedeutet natürlich nicht nur, Terroristen anzugreifen, sondern sie auch zu vernichten. Deshalb habe ich so deutlich gemacht, dass wir uns in sehr schwieriges Fahrwasser begeben, wenn sich Hamas-Terroristen hinter Menschen, hinter Schulen verstecken. Aber wir scheuen uns nicht davor. Deshalb habe ich bei den Vereinten Nationen klargestellt, dass zivile Einrichtungen ihren Schutzstatus verlieren könnten, wenn Terroristen diesen Status missbrauchen.“ 7)

Daraufhin forderte die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese, die Außenministerin auf, Beweise für ihre Behauptung vorzulegen, dass sich Hamas-Kämpfer in Schulen oder in anderen zivilen Einrichtungen verstecken. Bis heute blieb das Außenministerium eine Antwort schuldig. Immer wieder gibt auch die israelische Armee als Grund für die Bombardierung von Schulen und Krankenhäusern angebliche Verstecke von Kämpfern an, Belege dafür gibt es allerdings nie. Ärzte in Gaza haben immer wieder betont, dass sie niemals Waffen oder Kämpfer in Tunneln unter ihren Krankenhäusern gesehen hätten. Dagegen sind sie der Auffassung, dass durch die Zerstörung von Krankenhäusern und die gezielte Tötung von Ärzten und medizinischem Personal eine größtmögliche Anzahl von Toten bewirkt werden soll.

Dreihundert Akademiker protestierten gegen Baerbocks Rede und forderten sie in einem Brief auf, ihre „Schutzstatus“-Erklärung zurückzuziehen. In dem von der Palestine Academic Group initiierten Brief kritisieren sie, dass Baerbock „Israels altes Narrativ des menschlichen Schutzschildes nachplappern“ würde und eine „fadenscheinige Rechtfertigung für die völkermörderische Kampagne gegen palästinensische Zivilisten“ lieferte. 8)

Für einen weiteren internationalen Skandal sorgte die Lieferung von acht Containern des Sprengstoffs Royal Demolition Explosive (RDX) an Israels größtes Militärunternehmen, Elbit Systems. RDX-Sprengstoff ist ein in Deutschland erfundener Sprengstoff, der stärker als TNT gilt und als Schlüsselkomponente für die Produktion von Fliegerbomben, Granaten und Raketen benötigt wird.

Auf dem Weg von Vietnam, wo das Frachtschiff MV Kathrin mit dem Sprengstoff beladen worden war, sollte das erste Anlegeziel Walvis Bay sein, der größte Überseehafen Namibias. Die dortigen Behörden verweigerten dem Schiff die Anlegeerlaubnis mit der Begründung, dass „Namibia seiner Verpflichtung nachkommt, israelische Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord sowie die rechtswidrige Besetzung Palästinas nicht zu unterstützen oder sich daran mitschuldig zu machen.“ Der namibische Justizminister wies auf die Resolution des UN-Menschenrechtsrats vom 5. April 2024 hin, die ein Waffenembargo gegen Israel forderte. Die Resolution war mit großer Mehrheit angenommen worden, nur die USA, Deutschland und vier weitere Staaten hatten dagegen gestimmt.

Die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese lobte die Entscheidung Namibias und erinnerte die internationale Gemeinschaft daran, dass „jede militärische Lieferung an Israel, das nach Feststellung des Internationalen Gerichtshofs möglicherweise Völkermord begeht, einen Verstoß gegen die Völkermordkonvention darstellt“. 9)

Da das Schiff zu diesem Zeitpunkt unter portugiesischer Flagge fuhr, kritisierte Albanese auch Portugal, das damit einen Verstoß gegen das Völkerrecht begehe. Daraufhin entflaggte die portugiesische Regierung das Schiff und einen Tag später war das Schiff laut verschiedenen Schiffsortungswebseiten unter deutscher Flagge registriert (MS PENG CHAU BOEHE SCHIFFAHRT GMBH & CO). Damit ist Deutschland sowohl als Flaggen- als auch Reedereistaat für das Frachtschiff und dessen Ladung voll völkerrechtlich verantwortlich. Nach derzeitigem Wissensstand liegt die MV Kathrin im Mittelmeer in internationalen Gewässern, nachdem ihr auch der EU-Mitgliedsstaat Malta mit Verweis auf die völkerrechtliche Lage und den an Bord befindlichen RDX-Sprengstoff die Einfahrt in dessen Gewässer verweigerte.

Entzug der Akkreditierung

Der Ruf nach Sanktionen gegen Israel nimmt zu und auch die Forderung, israelischen Diplomaten die Akkreditierung bei der UNO zu entziehen, wird zunehmend lauter. 1974 beschloss die UN-Generalversammlung, Südafrika von der Teilnahme an den Sitzungen der Generalversammlung und ihrer Ausschüsse auszuschließen und entzog damit das Recht an Mitberatung und Abstimmung. Die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen hat Südafrika damals nicht verloren, aber es war ein starkes politisches Zeichen der internationalen Gemeinschaft gegen die Apartheidspolitik.

Aufgrund der Waffenlieferungen und ihrer unverbrüchlichen Unterstützung der israelischen Regierung steht die Bunderepublik international am Pranger. Das angebliche Recht auf Selbstverteidigung Israels, das von Baerbock ständig wiederholt wird und als Begründung für die Zerstörung Gazas und der Massaker herhalten muss, ist lächerlich und abwegig.

Zu offensichtlich sind die Beweise des willkürlichen und gezielten Tötens von ZivilistInnen, der Misshandlungen von Tausenden palästinensischen Gefangenen, Entzug von Nahrungsmitteln und Verweigerung von humanitärer Hilfe, die Liste ist endlos.

Aufgrund der erdrückenden Beweise und der Überzeugung zahlreicher Völkerrechtler ist es nicht nachvollziehbar, dass Außenministerin Baerbock und Bundeskanzler Scholz weiterhin leugnen, dass es sich in Gaza um Völkermord handelt.

Angesichts der Klage, die Südafrika im Dezember 2023 beim Internationalen Gerichtshof (IStGH) gegen Israel aufgrund des Verdachts des Völkermordes eingereicht hat, warnt die UN-Sonderberichterstatterin für Palästina, Francesca Albanese, wenn „Deutschland beschließt, sich an die Seite eines Staates zu stellen, der internationale Verbrechen begeht, dies eine politische Entscheidung ist, aber auch rechtliche Auswirkungen hat“. 10)

Hier sei daran erinnert, dass der Gerichtshof in Den Haag am 26. Januar 2024 entschied, dass Israel alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen muss, um einen Völkermord im Gazastreifen zu verhindern. Seitdem hat Südafrika drei Dringlichkeitsanträge in Den Haag gestellt, um eine Beendigung der israelischen Militäroperation in Gaza zu erreichen und die humanitären Hilfsprogramme für die Bevölkerung auszuweiten. Am 28. Oktober teilte die südafrikanische Präsidialverwaltung mit, dass das Land dem Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen ein 750-seitiges Memorandum mit den zur Unterstützung seiner Klage gesammelten Beweisen vorgelegt habe. Einen Haftbefehl gegen Netanjahu, der im Mai 2024 beantragt wurde, ist zwar noch nicht erlassen, aber „allein die Tatsache, dass der IStGH gegen den aktiven Widerstand vor allem der Regierungen der USA und BRD tätig wird, bedeutet eine entscheidende Wende im Umgang mit dem Völkerrecht“, betont Völkerrechtler Norman Paech. 11)

Verbote von Protest und Zensur

Die Repression gegen Proteste gegen Völkermord und die gravierenden Menschenrechts-verletzungen, die auch in der Westbank und im Libanon rasant zunehmen, sind beängstigend. Insbesondere die Berliner Polizei zeichnet sich durch enorme Brutalität aus, spricht Verbote von Kufijas und bestimmten Slogans und Plakataufschriften aus, verbietet Demonstrationen und beschlagnahmt elektronische Geräte bei Hausdurchsuchungen von Palästina-Aktivisten.

International bekannt wurde das Verbot des Palästina-Kongresses, der vom 12. bis 14. April 2024 mit hochrangigen Experten und Expertinnen in Berlin stattfinden sollte, und nach nur neunzig Minuten durch die Polizei verboten wurde. Angeblich äußerte der Redner, der renommierte Wissenschaftler Dr. Salman Abu Sitta, zu Beginn seiner Videobotschaft, etwas „Verbotenes“,  so dass seine Videobotschaft nach drei Minuten abgeschaltet und der Strom gesperrt wurde. Die Anwesenden mussten den Saal verlassen, der Kongress wurde beendet.

Schon im Vorfeld wurde gegen den „umstrittenen“ Kongress gehetzt und als Treffen von „Israelhassern“, Antisemiten und Islamisten bezeichnet. Auch ein Verbot wurde erwogen, was vermutlich juristisch nicht durchsetzbar war. Der Gipfel war die Kündigung und Sperrung des Kontos der Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost, der Hauptorganisator des Kongresses. Man nehme zur Kenntnis, dass 2024 einem jüdischen Verein das Konto bei der Berliner Sparkasse ohne Vorwarnung gekündigt wurde. Ein großer Protest und Aufschrei über diesen Skandal blieb aus. Wie war das 1933, als viele jüdische Geschäftsleute und ganz normale jüdische Bürger und Bürgerinnen plötzlich nicht mehr an Gelder auf ihren Konten kamen?

Skandalös ist auch das Einreise- und Redeverbot des ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis, der als Redner eingeladen war. Bislang ist er der einzige Grieche, der nicht nach Deutschland einreisen durfte. Selbst die Junta-Politiker blieben während der Militärdiktatur (1967 bis 1974) unbehelligt.

Neben Yanis Varoufakis wurde auch ein Einreiseverbot für den weltweit renommierten britisch-palästinensischen Chirurg und Rektor der Universität Glasgow, Dr. Ghassan Abu-Sitta, ausgesprochen. Er hat nach dem 10. Oktober 2023 im Shifa-Krankenhaus in Gaza Stadt und im Ahli-Krankenhaus gearbeitet. Das Ahli-Krankenhaus ist das älteste Krankenhaus im Gazastreifen, das bis zu seiner Zerstörung vom Ökumenischen Rat der Kirchen zusammen mit der Anglikanischen Kirche in Großbritannien geleitet wurde.

Dr. Ghassan sollte auf dem Palästina Kongress über seine Erfahrungen über das Töten in Gaza berichten. Das verhinderten die deutschen Behörden, denn es sollten keine Zeugenaussagen, die belegen, dass in Gaza ein Völkermord stattfindet, ans Tageslicht kommen. Dr. Ghassan Abu Sittas Kommentar:  „Sie begraben die Beweise und sie bringen die Zeugen zum Schweigen, verfolgen sie oder schüchtern sie ein.“ Dann verweist er auf Hannah Arendt, die 1958 in ihrem ersten Vortrag, den sie in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg gehalten habe, sagte, man vermenschliche das Geschehen in der Welt und das, was in den Menschen selbst vor sich gehe, indem man darüber spreche. „Und indem wir darüber sprechen, lernen wir, menschlich zu sein. Wir sehen, wie sich der erste Völkermord im 21. Jahrhundert entfaltet. Dass Deutschland Zeugen dieses Völkermordes zum Schweigen bringt, verheißt für das vor uns liegende Jahrhundert nichts Gutes.“

Für Dr. Abu Sitta ist es klar, dass das Ahli-Krankenhaus absichtlich angegriffen wurde und ein Lackmustest gewesen sei. „Die Israelis wollten sehen, welche Reaktion es geben würde, wenn dieses hochrangige Krankenhaus angegriffen würde. Da die Reaktion der internationalen Gemeinschaft so schwach war, begannen sie innerhalb von einigen Tagen, das Gesundheitssystem im Norden von Gaza zu zerstören“.  12)

Hätten die USA und Deutschland sofort ihre Waffenlieferungen und andere Unterstützung gestoppt, wäre die Zerstörung weiterer Krankenhäuser, in denen Tausende PalästinenserInnen getötet wurden,  vermutlich nicht passiert.

Kritik an der Antisemitismus-Resolution

Die Liste der verbotenen Veranstaltungen wie Ausladungen von renommierten Intellektuellen und KünstlerInnen, die sich für Menschenrechte einsetzen und Israels genozidale Politik verurteilen, ist lang. Gastprofessuren wurden abgesagt, Preisverleihungen gecancelt und immer mehr jüdische WissenschaftlerInnen sagen Einladungen zu Konferenzen ab, weil sie nicht in Verbindung mit angeblich antisemitischen Äußerungen gebracht werden wollen, wenn sie die israelische Besatzungspolitik und/oder den Krieg gegen Gaza verurteilen. Dies wird sicherlich mit der  Antisemitismus-Resolution noch zunehmen, befürchtet Susan Neiman, Direktorin des Einstein Forums in Potsdam.

Sie äußerte das im Gespräch mit Barbara Stollberg-Rilinger, Rektorin des Wissenschaftskollegs zu Berlin, und anderen Experten die einen Tag vor der Abstimmung im Bundestag stattfand. Für Neiman ist die Resolution „reine Symbolpolitik“, die einlädt zum Missbrauch und die Polarisierung innerhalb der Gesellschaft verstärkt.   Im Zusammenhang mit dem angeblich immens gestiegenen Antisemitismus zitiert sie den ehemaligen israelischen Botschafter Avi Primor, der betont, dass nicht der Antisemitismus zugenommen hat, sondern die Kritik an der israelischen Regierungspolitik. 13)

Es gab viel Kritik an der Resolution. Am 24. Oktober veröffentlichten sechs WissenschaftlerInnen (Ralf Michaels, Jerzy Montag, Armin Nassehi, Andreas Paulus, Miriam Rürup und Paula-I. Villa Braslavsky) einen Alternativvorschlag in der FAZ. „Ihr Motto: Konsens statt Kompromiss. Ihre Ziele: Integration jüdischer Pluralität, Vereinbarkeit mit Grundgesetz und Völkerrecht, Fokus auf Eigenverantwortlichkeit statt Repression“.

Bis Sonntag, den 3.11.2024, gab es für diesen Vorschlag über 1400 Unterschriften aus Politik, Kunst, Kultur und Wissenschaft,  „um die längst überfällige öffentliche Debatte einzufordern“. Sie „begrüßen die vorgeschlagenen Formulierungen, bekennen sich zu einem anderen, inklusiven Modell des Schutzes von Minderheiten und der Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus, und bekräftigen ihren Wunsch nach einer offenen Debatte über die geplante Resolution und ihre Alternativen“. 14)

Antisemitismus-Resolution mit dem Titel „Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“ vom Bundestag angenommen

Alle Kritik hat nichts genützt. Am 7.11. 2024 hat der Bundestag die umstrittene Antisemitismus-Resolution „Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“  15) angenommen, der alle Parteien mit Ausnahme des Bündnisses Sahra Wagenknecht BSW zugestimmt haben.

Heftig kritisiert wurde die Resolution auch von israelischen Organisationen. Yudith Oppenheimer, Direktorin von Ir Amim, einer Organisation, die sich für eine Zwei-Staaten-Lösung einsetzt. Sie befürchtet, dass die Resolution dazu beitrage, „eine Atmosphäre zu schaffen, in der unsere Arbeit delegitimiert wird. Und dann hängt es an der deutschen Regierung, wie weit sie das treiben will und wie viel Druck die israelische Regierung macht, Gelder zu kürzen und Menschenrechtsorganisationen zu sanktionieren. Denn die Resolution würde es der israelischen Regierung sehr viel einfacher machen, die Arbeit der Organisationen zu beschränken.“ 16) Diese Angst treibt viele israelische Nichtregierungsorganisationen um, da sie die israelische Besatzungspolitik kritisieren und eine völlig konträre Politik verfolgen als die Regierung. Ist das dann „israelbezogener Antisemitismus“, der unter Umständen mit Kürzung oder Streichung der finanziellen Unterstützung durch deutsche Behörden bestraft wird?

Die Resolution fordert die Bundesregierung wird auf, „Gesetze so zu verschärfen, dass Antisemit*innen schärfere Konsequenzen drohen“, wobei das „in besonderem Maße im Strafrecht sowie im Aufenthalts-, Asyl- und Staatsangehörigkeitsrecht“ gelte. D.h. PalästinenserInnen, die keinen sicheren Aufenthaltsstatus haben, sollten sich in ihrem Protest oder ihrer Trauer um ermordete Angehörige zurückhalten und sich in keinem Fall mit der Polizei anlegen. Dürfen sie noch öffentlich auf Demonstrationen, auf Protestcamps reden, ohne Angst vor aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen zu haben?

Die Resolution ist ein Maulkorb für alle, nicht nur für Menschen ohne gesichertes Aufenthaltsrecht und ohne deutsche Staatsbürgerschaft.

Als letztes seien auf die außenpolitischen Forderungen in der Resolution hingewiesen. Die Bundesregierung wird aufgefordert, sich weiterhin für die „Existenz und die legitimen Sicherheitsinteressen des Staates Israel als ein zentrales Prinzip der deutschen Außen und Sicherheitspolitik“ einzusetzen. „Israel habe das Recht, sich gegen Angriffe zur Wehr zu setzen und seine Bürger*innen zu schützen. Bemühungen, eine Zwei-Staaten-Lösung in Nahost voranzutreiben, gelte es zu verstärken“.

Damit wird der Bundesregierung zugestanden, die Massaker im Gaza und im Libanon sowie das Töten und die Vertreibung der PalästinenerInnen aus der Westbank mit dem „Recht auf Selbstverteidigung“ zu entschuldigen und zu rechtfertigen.

Ob sich daraus auch in Zukunft rechtliche Konsequenzen für die Bundesregierung ergeben könnten, wie es Francesca Albanese bereits andeutete, bleibt abzuwarten. Jedenfalls ist diese Resolution eine schallende Ohrfeige für alle, die sich für Völkerrecht und Menschenrechte einsetzen. Es ist aber auch zu fragen, welches jüdische Leben damit geschützt werden soll? Das Leben der Mitglieder der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“, die oft des Antisemitismus bezichtigt und häufig unflätig beschimpft werden? Sind sie in Zukunft von Kontensperrungen oder anderen repressiven Maßnahmen wie Verweigerung eines Veranstaltungsraumes für ihre Konferenzen geschützt? Oder gilt die Resolution nur für „gute“ Juden, die dem Zentralrat der Juden angehören und mit dem politischen Mainstream kompatibel sind? Es ist Zeit, dass eine solche Diskussion in Deutschland offen geführt wird.

Digital Service Act und die „vertrauenswürdigen Hinweisgeber“

Mit dem Digital Service Act und den „vertrauenswürdigen Hinweisgebern“, die das Internet von Desinformation, fake news, hate speech und „unliebsamen Inhalten“ säubern soll, erhält ist die Antisemitismus-Resolution eine noch gefährlichere Dimension.

So können die Antisemitismus-Jäger auch auf die Meldestellen der Bundesnetzagentur (BNA) zugreifen.  Diese Meldestellen, sog. „Trusted Flagger“ („vertrauenswürdiger Hinweisgeber“), sollen das Internet von „unzulässigen Inhalten“ säubern und haben eine große Machtfülle.

Am 1.10. 2024 wurde der erste „Trusted Flagger“ in Deutschland ernannt, REspect!, eine Stiftung zur Förderung der Jugend in Baden-Württemberg mit Sitz in Sersheim. Diese Stiftung hatte als erste Organisation einen Zulassungsantrag bei dem Digital Services Coordinator (DSC) in der Bundesnetzagentur eingereicht und wurde als „vertrauenswürdiger Hinweisgeber“ geadelt.

Nach welchen Kriterien REspect ausgewählt wurde, ist nicht bekannt. Ob eine Stiftung zur Jugendförderung die notwendige Qualifikation für die Einschätzung und Überprüfung der 15 verschiedenen Bereiche hat, zu denen Meldungen abgesetzt werden können, ist zweifelhaft. Es geht auch nicht nur um das Verfassen von Meldungen, sondern die „Trusted Flagger“ haben weitreichende Vollstreckungsbefugnisse. So sind laut Bundesnetzagentur die Hinweisgeber-Meldestellen gesetzlich verpflichtet, „Meldungen von Trusted Flaggern prioritär zu behandeln und unverzüglich Maßnahmen wie beispielsweise die Löschung der Inhalte zu ergreifen.“ 17)

Diese perfekte Zensur-Maßnahme ist der Totengräber der Meinungsfreiheit.

Quellenangaben

1)          https://mondoweiss.net/2024/11/israels-mass-killing-campaign-in-gaza-is-escalating/?ml_recipient=136890371831498318&ml_link=136890363469104984&utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_term=2024-11-02&utm_campaign=Daily+Headlines+RSS+Automation

2)          Pressemeldung auf der Internetseite des Uno-Koordinationsausschusses https://www.geneve-int.ch/de/inter-agency-standing-committee-iasc-1 https://www.spiegel.de/ausland/israel-gaza-krieg-bevoelkerung-nord-gazas-ist-uno-angaben-zufolge-vom-tode-bedroht-a-23e8fc7c-a4d4-4633-ba19-ee8f9c5702e8

3)          Jakob Reimann, 26. 10. 2024, junge Welt: „Internierungslager für Gaza, Israelische Regierung prüft Pläne, ummauerte Areale in Küstenenklave einzurichten und US-Söldnerfirma zur Kontrolle anzuheuern“, https://www.jungewelt.de/artikel/486535.gazakrieg-internierungslager-f%C3%BCr-gaza.html

4)          https://thecradle.co/articles/israel-sets-in-motion-plan-for-gaza-concentration-camps-run-by-cia-trained-mercenaries-report

5)          www.palestinemission.at, 29. Oktober 2024

6)          Evelyn Hecht-Galinski: „Schamlose deutsche Mittäterschaft – Von Kopf bis Fuß auf Krieg eingestellt“, https://www.sicht-vom-hochblauen.de/kommentar-vom-hochblauen-schamlose-deutsche-mittaeterschaft-von-kopf-bis-fuss-auf-krieg-eingestellt-von-evelyn-hecht-galinski/

7)          Rede von Außenministerin Annalena Baerbock bei der Vereinbarten Debatte „7. Oktober: Ein Jahr nach dem terroristischen Überfall auf Israel“ im Bundestag, 10.10.2024 –https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/-/2679468

8)          Rayhan Uddin und Lubna Masarwa,  29. Oktober 2024 „Akademiker fordern die deutsche Politikerin Annalena Baerbock auf, ihre Kommentare zu Gaza zurückzunehmen“, https://www.middleeasteye.net/news/academics-call-german-foreign-minister-retract-gaza-comments, in https://www.sicht-vom-hochblauen.de/

9)          „Transport von RDX-Sprengstoff nach Israel durch deutsches Schiff sorgt international für Empörung“, Bundespressekonferenz 23.10.2024, https://www.nachdenkseiten.de/?p=123861

10)        Jakob Reimann: „Ein Jahr Kriegsverbrechen, junge welt 10.10. 2024 https://www.jungewelt.de/artikel/485458.nahostkonflikt-ein-jahr-kriegsverbrechen.html

11)        Norman Paech: „Macht oder Völkerrecht – was zählt in der Welt?“,  Hintergrund, Heft 9/10 2024, S. 22-26.

12)        „Beweise begraben, Zeugen zum Schweigen bringen“, Karin Leukefeld, Nachdenkseiten 15.4. 2024, https://www.nachdenkseiten.de/?p=113863

13)        https://jung-naiv.podigee.io/1026-massive-kritik-an-antisemitismus-resolution-des-bundestages-komplette-pk-6-november-2024

14)        https://www.amnesty.de/antisemitismus-resolution-deutschland-kritik-zivilgesellschaft-buendnis-alternativvorschlag

15)        https://dserver.bundestag.de/btd/20/136/2013627.pdf

16)       https://www.tagesschau.de/ausland/asien/antisemitismus-resolution-kritik-israel-100.html

17)        Bundesnetzagentur lässt erstmalig Trusted Flagger für Online-Plattformen in Deutschland zu, 1.10. 2024  https://www.bundesnetzagentur.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2024/20240927_DSC_TrustedFlagger.html,

 

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

Entdecke mehr von Sicht vom Hochblauen

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen