Von der Bereitschaft zum Völkermord Moshe Zuckermann

Dank an Moshe Zuckermann für die Genehmigung seinen neuen, heute auf Overton-Magazin erschienen Kommentar auf der Hochblauen Seite zu übernehmen. Evelyn Hecht-Galinski

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Von der Bereitschaft zum Völkermord

Vertreibung aus Tantura 1948. Bild: Beno Rothenberg /Meitar Collection / Israelische Nationalbibliothek / The Pritzker Family National Photography Collection/CC BY-4.0

Der israelische Historiker Benny Morris hat Gedanken zum Vorwurf des Völkermordes in Gaza publiziert. Sie sind bemerkenswert.

 

Der umstrittene israelische Historiker Benny Morris hat letzte Woche einen bemerkenswerten Text zur Klärung der Frage, ob im Gazastreifen ein Genozid stattfinde, publiziert. Umstritten ist er, vor allem unter israelischen Linken, weil er vor drei Jahrzehnten Forschungsergebnisse zum 1948er Krieg und zur palästinensischen Nakba vorlegte, die für viel Aufsehen sorgten, da sie aus dem nationalen historisch-politischen Konsens Israels ausscherten; späterhin machte er aber in dieser Hinsicht einen normativen Rückzieher, als er suggerierte, das “Palästinenserproblem” hätte schon damals im Rahmen der Nakba “gelöst” werden können.

Umso erstaunlicher ist es, dass er sich diesmal der heiklen Erörterung eines möglichen Genozids in Gaza stellte. Seine Kolumne beginnt Morris mit der apodiktischen Feststellung: “Israel begeht in Gaza keinen Völkermord.” Jene, die einen solchen behaupten, irrten schlichtweg: “Es gibt keine genozidale Politik der Regierung, es gibt keinen Beschluss der Führer, einen Genozid zu vollführen, es besteht keine bewusste Absicht, die Palästinenser auszurotten, und es gibt keine von der Regierung an die Armee bzw. von den hohen Militärrängen an die operativen Einheiten ergehenden Befehle, die ‘Palästinenser’ zu ermorden. Vielen von ihnen kommen um, aber eine politische Anweisung ist es nicht. Es gibt keinen Genozid. Aber der Genozid ist möglicherweise unterwegs.”

Diese erstaunliche Behauptung erklärt er wie folgt: “Die israelische Bevölkerung ist vielleicht auf dem Weg dorthin, befindet sich schon tief im Loop, der zum Völkermord führt, tief  im Prozess der Einstimmung darauf. In dieser Hinsicht ist ein Teil des Volkes eigentlich bereits dort (wenn er sich dessen auch nicht bewusst ist), es handelt sich um jenen Teil, der ‘Amalek’ erinnert und entweder lauthals oder unter vorgehaltener Hand von Entwurzelung, Exilierung und Transfer redet (es sollte vielleicht in Erinnerung gerufen werden, dass die Nazis anfangs, 1939-1940, von der Exilierung des europäischen Judentums nach Madagaskar oder irgendeinem anderen Ort redeten, bevor sie mit der Massenvernichtung begannen).”

Dies ist insofern bemerkenswert, als Morris hier nicht nur eine direkte Analogie zu den Nazis zieht – in Israel noch immer ein unverzeihlicher Tabubruch –, sondern begrifflich auch eine Unterscheidung zwischen dem real vollzogenen Völkermord und die mentale Vorbereitung auf ihn vornimmt. Diese Unterscheidung ist von höchster Bedeutung, da immer davon ausgegangen werden muss, dass ein Genozid nicht einfach “geschieht”, sich “plötzlich” (gleichsam “aus heiterem Himmel”) ereignet, sondern in einer wie immer gearteten – ideologischen, sozialen, nicht zuletzt auch sozial-psychischen – Bereitschaft zu seinem Vollzug wurzelt.

Die Anzeichen zu einer solchen Bereitschaft sieht Morris etwa in der dezidierten Rhetorik von nationalreligiösen Siedlern, nationalisierten Orthodoxen und eingefleischten Netanjahu-Anhängern, die lautstark das Erwünschte öffentlich verkündet: Nablus und Jenin sollen dem Erdboden gleichgemacht werden; so solle es auch anderen palästinensischen Städten und Dörfern ergehen. “Sie sehen in den Palästinensern keine Menschen”, stellt Morris fest, “und ich hege keinen Zweifel daran, dass wenn die weiteren (lebenden wie toten) Geiseln nach Israel zurückkehren werden und sich ihr physischer wie psychischer Zustand der Öffentlichkeit eröffnen wird, besagte Bereitschaft beschleunigt werden wird.”

Die Dehumanisierung, die sich in den Herzen der Massen einfräsen muss, bevor es zum Massenmord kommt, sei schon hier. Sie manifestiere sich jeden Tag, wie den Zeugenberichten von Soldaten zu entnehmen ist – sei es in der Tötung von Zivilisten im Gazastreifen, sei es in der Brutalität von Sicherheitskräften beim Transport halbnackter Gefangener, teils Hamas-Leute, teils Zivilisten, zu den Gefangenenlagern, sei es in routinemäßigen Schlägen und Foltern in den Internierungslagern und Gefängnissen, sei es in der Gleichgültigkeit der Bevölkerung all dem gegenüber.

Gleichwohl hebt Benny Morris hervor, dass dieser Prozess, den Israel durchläuft, zumindest teilweise von einem parallelen Prozess der Dehumanisierung von Juden herrührt, der sich bei unseren “palästinensischen muslimischen Nachbarn” entfaltet hat. Die Basis dazu sieht er in den Anfängen des Islams, in einer im Koran sich findenden Beschreibung der Begegnung des Propheten Mohammed mit den Juden, deren Abschlachtung und Exilierung aus dem Hedschas im 7. Jahrhundert. Im Koran werden die Juden als ein niedriges Volk, als Prophetenmörder und als Nachkommen von Affen und Schweinen gekennzeichnet. Einen Niederschlag habe diese hasserfüllte Sicht der Juden auch in der Hamas-Konvention gefunden, demzufolge der Jude zu verfolgen und zu töten sei, “die Felsen und die Bäume, hinter denen sich der Jude versteckt, werden kooperieren und die Verfolger über den Unterschlupf unterrichten. Das ist genozidales Denken.” Der an den Juden am 7. Oktober begangene Massenmord und das Geprahle über die Verbrechen am Tatort seien, so Morris, unweigerlich als Ausdruck des lodernden Hasses, der sich im Koran und in der Verfassung der Hamas findet, zu verstehen.

Dennoch betont Morris, dass “nicht aller Hass der Ideologie entstammt”. Die Einstimmung der Araber auf den Genozid sei leicht nachzuzeichnen: Zentral seien das Verjagen einer Mehrheit der Palästinenser aus ihren Häusern im 1948er Krieg und die seit 1967 brutal und erniedrigend betriebene Okkupation der Palästinenser im Westjordanland. Morris hegt auch keinen Zweifel daran, dass “die Massentötung und das Entwurzelung der Bewohner [des Gazastreifens] durch Israel in den letzten 16 Monaten die Genozid-Bereitschaft gegen Juden vertiefen wird”.

Der Prozess der Einstimmung der Juden auf Genozid gilt ihm als ähnlich und unterschiedlich zugleich. Ein Teil von ihm habe sich bei ihnen durch die Heilige Schrift vollzogen, in der von der Eroberung des Heiligen Landes erzählt wird, die mit Massakern und auch Massaker-Geboten (“Amalek”) einherging. Bei allen Juden habe sich dieser Prozess durch die von Nichtjuden gegen Juden über 2000 Jahre begangenen Gewaltakte – “vor allem von Christen, aber auch durch Moslems (Farhud etc.)” – mit der Shoah als Höhepunkt verfestigt. Im 20. Jahrhundert sei “der unaufhörliche Terror von Arabern gegen Juden in Eretz Israel” hinzugekommen. Der 7. Oktober bilde einen Höhepunkt in der Einstimmung der Juden auf den Genozid, “und der Genozid wird Aller Vermutung nach eintreten”.

Strukturell sieht er diese Vermutung im disproportional hohen Geburtenzuwachs unter den Bevölkerungsteilen, die einer “harten Hand” gegen die Araber das Wort reden, begründet. Man könne sich auf die Araber verlassen, dass sie den Anlass für einen genozidalen Ausbruch liefern werden. Wie dieser Genozid aussehen wird, weiß Morris nicht mit Bestimmtheit zu sagen. “Vielleicht eine Kombination aus Exilierung (ethnische Säuberung) und Massenmord, wie sie die Türken an den christlichen Gemeinden in Kleinasien in den Jahren 1894-1924 vollzogen haben.”

Seine Kolumne beschließt Morris wie folgt: “Wenn das palästinensische Problem, das der 7. Oktober in das Bewusstsein der Welt und unser Bewusstsein zurückgebracht hat, nicht gelöst werden wird, und nur die Zweistaatenlösung kommt da infrage (wenn sie sich auch heute als absolut phantastisch ausnimmt), wird der Genozid ganz bestimmt kommen, und die stärkere Seite wird ihn selbstverständlich vollführen.”

Wie anfangs bemerkt, ist die Differenzierung, die Benny Morris zwischen real vollzogenem Völkermord und der Bereitschaft, ihn zu vollziehen, vornimmt, beachtlich. Es bedarf gleichsam der kollektiven “Sozialisation” auf diese Disposition hin, damit der Völkermord überhaupt stattfinden kann. Der hierbei sich bildende Willensprozess weist unterschiedliche Beweggründe und strukturelle Momente auf.

Nicht von ungefähr widmet Morris der Religion in diesem Zusammenhang einen verhältnismäßig breiten Raum, denn rein ideologisch betrachtet sind es in der Tat religiöse Fundamentalisten auf der israelischen wie palästinensischen Seite, die sich durch eine genozidale Rhetorik auszeichnen. Und dennoch muss man sich fragen, was es mit diesem religiösen Motivationsantrieb auf sich habe. Will man allen Ernstes behaupten, dass Moslems bereit sind, einen Genozid an Juden zu begehen, weil Juden im Koran als Nachfahren von Affen und Schweinen dargestellt werden? Und sind die Mordexzesse israelischer Soldaten in Gaza wirklich auf die Wirkungskraft des Amalek-Gebots zurückzuführen? Der Spruch “Gieße deinen Zorn über die Völker aus”, den man am Seder-Abend in fröhlicher Familienrunde, die Haggada lesend, zitiert – ist er noch immer das, was es für das religiöse Judentum in der diasporischen Not bedeutet haben mag, als es Gott um Hilfe vor den Verfolgungen durch die Nichtjuden anflehte?

Und wenn man diese Verfolgungen aus vergangener Geschichte als Beweggrund anführt – kann man allen Ernstes das, was Christen seit dem Mittelalter Juden im Abendland angetan haben, mit dem, was ihnen durch Moslems im Orient widerfahren ist, vergleichen? Morris ist in diesem Punkt vermeintlich vorsichtig, und doch manipulativ: Er redet von den gegen Juden über 2000 Jahre begangenen Gewaltakte – “vor allem von Christen, aber auch durch Moslems (Farhud etc.)” – mit der Shoah als Höhepunkt. Farhud war ein im Juni 1941 gegen Juden in Bagdad begangenes Pogrom, bei dem 180-200 Juden umkamen, vergleichbar etwa der “Kristallnacht”, die Nazis gegen deutsche Juden im November 1938 initiierten. Aber kann dieses Pogrom in einem Atemzug mit dem Shoah-Genozid genannt werden? Hätte man überhaupt von Shoah geredet, wenn es bei der “Kristallnacht” geblieben wäre? “Farhud etc.” reicht da als Argument nicht aus.

Und wenn Morris gleich darauf auch den “unaufhörlichen Terror von Arabern gegen Juden in Eretz Israel” im 20. Jahrhundert als Faktor der Bereitschaft von Juden zum Genozid anführt, dann verlässt er auch die Ebene des historischen Entstehungszusammenhangs dieses Terrors, der nicht von ungefähr erst im 20. Jahrhundert ansetzt, in dem Jahrhundert nämlich, in dem sich der Nahostkonflikt generiert, der als Territorialkonflikt zwischen Palästinensern und Juden, genauer: zwischen dem politischen Zionismus und dem palästinensischen Kollektiv in Palästina zu begreifen ist.

Das hat auf der palästinensischen Seite nichts mit einer genozidalen Ausrichtung auf Juden zu tun, sondern mit der Bekämpfung der zionistischen Expansion und Besatzungsbarbarei. Der lodernde Hass, der sich am 7. Oktober an israelischen Juden entlud, hatte wenig mit religiösen Mythen zu tun, viel aber mit der akkumulierten Leiderfahrung der Palästinenser. Auch das vehemente Vorgehen der IDF infolge der Verbrechen am 7. Oktober hatten wenig mit Geboten aus der Heiligen Schrift zu tun, sondern in erster Linie mit einem ungehemmten Rache- und Vergeltungsbedürfnis (gekoppelt mit einer narzisstischen Kränkung der Besatzungsmacht).

Die Symmetrie, die Benny Morris zwischen der jüdische-israelischen und der palästinensischen Bereitschaft zum Genozid herstellt, ist historisch insofern unzulässig, als die Machtverhältnisse zwischen dem zionistischen Staat und den Palästinensern von Anbeginn nicht symmetrisch waren. Und dennoch gelangt er am Ende seiner Kolumne zur richtigen Schlussfolgerung. Denn wenn es darum geht, die Gefahr eines potentiellen Genozids abzuwenden, dann kommt dafür in der Tat nur die Zweistaatenlösung infrage. Morris weiß aber auch, dass wenn es zum Genozid kommen sollte, “die stärkere Seite” ihn vollführen wird. Seit dem Gipfeltreffen von Donald Trump und Benjamin Netanjahu in dieser Woche kann man auch in dieser Hinsicht nur mit Grauen in die Zukunft blicken.

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