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Krieg im Nahen Osten
Warum Netanjahu um jeden Preis eskaliert
Thomas Röper
Im Gaza-Streifen, der auch als das größte Freiluftgefängnis der Welt bezeichnet wurde, bevor Netanjahus Vernichtungskrieg ihn zum größten Todeslager seit dem Ende der Nazi-Zeit gemacht hat, wurde kürzlich der Hamas-Führer Jahja Sinwar ermordet. Für Israel war das ein wichtiger symbolischer Sieg im Krieg gegen die Hamas. Im israelischen Establishment trug der Verstorbene lange den Spitznamen „der wandelnde Tote“, weil er zusammen mit dem ehemaligen Führer des politisch-militärischen Flügels, Ismail Haniyeh, der im Sommer bei einem israelischen Raketenangriff auf die Enklave getötet wurde, eines der wichtigsten Ziele des israelischen Militärs war.
Nicht nur Netanjahu war hinter Sinwar her, auch Tel Avivs langjähriger Verbündeter, die USA, hatten sich längst in die Suche nach dem abgesetzten Hamas-Führer eingeschaltet. Im August berichtete die New York Times, dass die US-Regierung enorme Ressourcen in die Suche nach Sinwar investiert habe. Die Versuche waren jedoch vergeblich, denn er lehnte elektronische Kommunikationsmittel ab und zog es vor, durch menschliche Kuriere in Kontakt zu bleiben, weshalb es unmöglich war, die Signale von Sinwars Kommunikation, die auch seinen Aufenthaltsort gezeigt hätten, abzufangen.
Das israelische Militär hat ihn bei einer seiner Razzien zufällig entdeckt. In diesem Video versucht Sinwar, die Drohne, die ihn entdeckt hat, mit einem Stock auszuschalten. Danach eine Leiche gefunden, die Sinwar sehr ähnlich sah, mit einer Handgranate, einer Pistole, einem UN-Ausweis und 40.000 israelischen Schekel in bar.
Auch wenn westliche Medien gerne etwas anderes behaupten, war Sinwar, wie auch der ehemalige Hamas-Führer Haniyeh, nicht an der Vernichtung Israels interessiert, sondern an der Sicherung der Zukunft des palästinensischen Volkes. Das sagte er 2018 in einem seltenen Interview mit einem italienischen Journalisten:
„Ich sage nicht, dass ich aufhören werde zu kämpfen. Ich sage nur, ich will keinen Krieg mehr. Ich will ein Ende der Belagerung. Wenn man bei Sonnenuntergang an den Strand geht, sieht man all die Teenager am Ufer, die sich unterhalten und sich fragen, wie die Welt jenseits des Meeres aussieht. Wie das Leben aussieht. Ich möchte, dass sie frei sind.“
Reuters stellte im Juli fest, dass Haniyeh im Vergleich zu den radikalen Mitgliedern der palästinensischen Gruppe für seinen moderaten und diplomatischen Ansatz bekannt sei. Dennoch wurde er unmittelbar vor einer weiteren Runde der Waffenstillstandsgespräche von israelischen Truppen ermordet. Die Systematik dieser Morde zeigt, dass Tel Aviv überhaupt nicht an Frieden interessiert ist.
Warum hat Netanjahu solche Angst vor einem Waffenstillstand?
Netanjahus Hauptziel ist es, die Israelis glauben zu machen, sie befänden sich im Belagerungszustand oder im Krieg. So will er sie kontrollieren und selbst an der Macht bleiben. Der israelische Premierminister fürchtet seit langem, seine Macht zu verlieren, weil er dann wohl mehrere Jahre hinter Gittern verbringen muss. 2019 wurde er in drei verschiedenen Fällen angeklagt: Betrug, Korruption und Untreue. Sollte er schuldig gesprochen werden, drohen ihm bis zu 10 Jahre Haft.
Im Gegensatz zu westlichen Staaten werden in Israel (ehemals) führende Politiker tatsächlich für Verbrechen zu Haftstrafen verurteilt. Der ehemalige israelische Präsident Mosche Katsav saß wegen Vergewaltigung mehrere Jahre im Gefängnis und der ehemalige israelische Premierminister Ehud Olmert saß wegen Untreue eine Strafe von über zwei Jahren ab.
Es ist allerdings das erste Mal, dass ein amtierender israelischer Regierungschef mit strafrechtlichen Vorwürfen konfrontiert wird. Nach seiner Wiederwahl 2023 beeilte Netanjahu sich, einige „Anpassungen“ im Justizsystem vorzunehmen, was 2023 in Israel zu massiven Protesten gegen die “Justizreform” führte.
Sarkastisch ausgedrückt war der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 das Beste, was Netanjahu passieren konnte, denn damit waren seine “Justizreform” und seine eigenen Skandale kaum noch ein Thema in den Medien.
Der Beginn des israelischen Krieges im Gazastreifen war für Netanjahu ein wirksames Mittel, um an der Macht zu bleiben. Aus dieser Warte betrachtet macht es sogar Sinn, dass Israel in Gaza einen Vernichtungskrieg führt, denn jede Eskalation vertieft die ohnehin fast unüberbrückbare Kluft zwischen Palästinensern und Israelis, verlängert den Krieg und lenkt von Netanjahus eigenen Problemen ab.
Es liegt daher durchaus in seinem Interesse, den Krieg auszuweiten und ihn zu einem Krieg zu machen, der weitere Staaten der Region erfasst. Dass Netanjahu dieses Ziel verfolgt, zeigt die Bodenoperation im Libanon, die seit Anfang Oktober andauert und bisher nur viele zivile Opfer gefordert, aber Israel – ähnlich wie der Krieg in Gaza – keinen militärischen Sieg gebracht hat.
Man kann das als Inkompetenz interpretieren, oder als den Wunsch, den Krieg zu eskalieren und zu verlängern, ohne tatsächlich einen Sieg zu erringen, der den Krieg beenden würde. Ob ein Sieg für Israel überhaupt möglich ist, ist allerdings eine andere Frage, denn mit seinem Vernichtungskrieg erschafft Netanjahu in Gaza und im Libanon tausende (wenn nicht zehntausende) neuer Widerstandskämpfer gegen Israel.
In seiner Ansprache an Israel nach dem Tod Sinwars sagte Netanjahu, sein Land habe „den Sieg des Guten über das Böse“ demonstriert, fügte aber hinzu, der Krieg sei „noch nicht vorbei“.
Nahost-Experten gehen davon aus, dass die Ermordung Sinwars Netanjahu politisch „wiederbelebt“ hat, nachdem er im Sommer fast zu einem Geiselsutausch- und Waffenstillstandsabkommen überredet worden war.
Netanjahu hat wiederholt versichert, dass die Bodenoperationen im Gazastreifen so lange fortgesetzt werden, bis die militärische Führung der Hamas ausgeschaltet ist. Diese Aussage zeigt seine Absichten deutlich, denn es ist seit langem bekannt, dass die Tötung der Hamas-Führer die Existenz der Hamas nicht beenden wird.
Stattdessen rückt ein Führer dem vorherigen nach. Israel hat bereits andere Führer der Gruppe ermordet, wie den Gründer Ahmed Yassin oder seinen Nachfolger Abdel Aziz Rantisi, die 2004 bei israelischen Luftangriffen getötet wurden. Doch danach wuchs der Einfluss der Gruppe in der Bevölkerung sogar und die Toten wurden zu Idolen der Jugend.
Die Ermordung von Hamas-Führern ist daher der sicherste Weg, den Krieg zu verlängern und einen wie auch immer gearteten Verhandlungsfrieden im Vorwege zu sabotieren, denn Israels Vorgehen erreicht vor allem eines: Eine weitere Radikalisierung bei den Palästinensern und eine Steigerung der Popularität, und damit eine Stärkung der Hamas.
Worthülsen aus dem Westen
Die Staats- und Regierungschefs der USA, Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens haben bei ihrem Treffen in Berlin nicht nur über Selenskys “Siegesplan” gesprochen, sondern auch über eine Waffenruhe im Gazastreifen. In einer gemeinsamen Erklärung wurde die „unmittelbare Notwendigkeit“ betont, den Krieg in Gaza zu beenden. Die Staats- und Regierungschefs erörterten die Entwicklungen im Nahen Osten, insbesondere die „Konsequenzen“ aus dem Tod Sinwars und die Notwendigkeit, „die Geiseln zu ihren Familien zurückzubringen, den Krieg in Gaza zu beenden und die Versorgung der Zivilbevölkerung mit humanitärer Hilfe sicherzustellen“.
Biden hat bei dem Treffen ausdrücklich von der Möglichkeit eines Waffenstillstands zwischen Israel und der Hamas gesprochen. Andererseits hat die Biden-Regierung die Ermordung von Sinwar aber auch als großen Erfolg gelobt.
Trotzdem meinte Biden, nach der Ermordung Sinwars gebe es eine Chance für eine diplomatische Lösung des Konflikts. Er wolle Blinken in den Nahen Osten schicken, der die israelische Führung zu einer friedlichen Lösung des Konflikts „drängen“ werde.
Diese amerikanischen Lippenbekenntnisse vor den anstehenden Wahlen sind genauso wertlos, wie all die anderen Erklärungen der US-Regierung in dieser Richtung seit Oktober 2023, denn die US-Regierung unterstützt Israel fast bedingungslos und bis Oktober 2024 haben die USA fast 18 Milliarden Dollar für die Verteidigung Israels ausgegeben.
Mit Erklärungen über einen Waffenstillstand wollen die US-Demokraten vor allem ihre eigenen Wähler einlullen, unter denen es viel Kritik an der US-Unterstützung des israelischen Völkermordes in Gaza gibt.
Israel wird nicht aufhören, Gaza zu bombardieren, bis die Hamas israelische Geiseln freilässt; die Hamas wird die Geiseln nicht freilassen, bis Israel aufhört, Gaza zu bombardieren – es ist ein Teufelskreis.
Und immer, wenn die Hamas für einen Waffenstillstand plädiert und ernsthafte Verhandlungen aufgenommen hat, kamen umgehend Provokation der israelischen Regierung, wie die Ermordung von Hamas-Führern. Und zwar auch von den Hamas-Führern, die ehrlich ein Ende des Krieges und eine Verständigung mit Israel in Form der Zwei-Staatenlösung wollten.
Bei diesen Aktionen der israelischen Regierung stellt sich eine berühmte, in diesem Falle aber sehr rhetorische Frage: Cui bono?
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Ob aus persönlichen oder nationalistischen Interessen heraus, die Politik Netanjahus ist ein Genozid an den muslimischen Einwohnern der Region. Mit Unterstützung und dem Segen der westlichen „Wertegemeinschaft“.