Zwischenbilanz des Gaza-Krieges von Moshe Zuckermann

Dank an Moshe Zuckermann für die Genehmigung der Veröffentlichung seines neuen, auf Overton publizierten Artikel, auf der Hochblauen Seite zu veröffentlichen. Evelyn Hecht-Galinski

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Zwischenbilanz des Gaza-Krieges

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Bild: IDF

Welches Fazit über die Auswirkungen des Gaza-Krieges lässt sich derzeit, noch vor seiner Beendigung, aus israelischer Perspektive ziehen?

 

Der Gaza-Krieg kann noch nicht endgültig bilanziert werden. Er dauert ja noch an. Aber eine Zwischenbilanz (auf israelischer Seite) darf jetzt schon erstellt werden. Einige ihrer gewichtigen Punkte seien hier erörtert.

Netanjahu hat über Jahre versucht, den israelisch-palästinensischen Konflikt aus dem Bewusstsein der Weltöffentlichkeit zu verdrängen. Das ist ihm auch lange Zeit sowohl in seiner Außen- und erst recht in seiner Innenpolitik gelungen. Sein Motto, es gelte den Konflikt zu verwalten, nicht zu lösen, diente ihm dabei als ideologisches Schutzschild. “Die Welt” hat weitgehend mitgespielt, die jüdische Bevölkerung Israels erst recht. Dem hat nun Hamas-Führer Yahya Sinwar ein Ende gesetzt. Ungeachtet der Frage, ob die horrende Menge an toten Palästinensern im Gazastreifen “notwendige Opfer” sind, wie Sinwar heute behauptet, oder dieses Diktum von ihm lediglich eine im nachhinein gemachte Rationalisierung ist, eines steht fest: Die “Palästinenserfrage” treibt wieder die politische Tagesordnung der Welt um; sie ist durch den massiv tobenden Tod zum Leben erwacht.

Das hört sich zynisch an. Aber Politiker reden nun mal so. Sie verrechnen verschlissenes Menschenleben und humanes Leiden mit dem Telos eines “höheren Zwecks”. So war der ägyptische Präsident Anwar Sadat seinerzeit bereit, eine Million ägyptische Soldaten zu opfern, um die von Israel besetzte Sinai-Halbinsel zu “befreien”. Netanjahu getraut sich nicht, derlei Perfiditäten zu quantifizieren. Aber er handelt so, als seien die Opfer dieses Krieges auf israelischer Seite eine Art hinzunehmenden Kollateralschadens: Die Geiseln würden mit zunehmendem militärischen Druck auf die Hamas befreit werden. Daran hält er bis heute noch fest, obwohl schon längst klar geworden ist, dass die Entführten, wenn überhaupt, nur über einen Deal mit der Hamas befreit werden können, welcher allerdings die Beendigung des Krieges zur Voraussetzung hat. Diesen will der israelische Premier aber aus privatem Interesse auf keinen Fall beenden.

Ein nicht minder gravierender “Kollateralschaden” ist der Zustand großer Landstriche im Süden und Norden des Landes: Ganze Ortschaften sind wegen massiven Beschusses seitens der Hamas im Süden und der Hisbollah im Norden evakuiert worden. Die Bewohner dieser geräumten Gebiete durchleben in Hotels eine bleierne Zeit des Wartens, ohne jedoch von der Regierung eine Zeitperspektive angezeigt zu bekommen. Netanjahu kann sich z.Z. keinen vollen Krieg mit der Hisbollah (und dem Iran) leisten. Hisbollah wird aber den Beschuss von Israels Norden erst dann einstellen, wenn Israel den Krieg in Gaza beendet – das aber will Netanjahu aus besagten Gründen nicht. Er müsste sonst den verlogenen Slogan vom “totalen Sieg” aufgeben, sich aber vor allem auf Neuwahlen und der Ausrufung einer staatlichen Untersuchungskommission über die Verfehlungen der Politik und des Militärs am 7. Oktober einlassen, bei denen es ihm an den Kragen gehen dürfte. Da können die jüdischen Flüchtlinge im eigenen Land warten.

Damit geht ein weiteres Resultat aus diesem Krieg einher: Das fundamentale Vertrauen eines Großteils der Bevölkerung in ihre gewählte Regierung (dessen es ja in jeder sich demokratisch dünkenden politischen Formation bedarf) ist von Grund auf erschüttert worden. Nicht nur haben der 7. Oktober und seine Folgen gezeigt, dass die Sicherheit der israelischen Bevölkerung mitnichten so garantiert ist, wie man sich (mithilfe der israelisch-militaristischen Ideologie und der mit ihr einhergehenden Überheblichkeit und Nonchalance) blindlings zu glauben angewöhnt hatte. Nicht nur tut sich die (große Verwüstungen anrichtende) IDF schwerer als vermutet mit dem Guerillakrieg der Hamas, sondern man muss vor allem zunehmend erkennen und widerwillig verinnerlichen, dass man sich auf die amtierende Regierung, im Grunde aber auf die politische Klasse insgesamt schlicht und ergreifend nicht mehr verlassen kann: Absurde Entscheidungen werden zuhauf getroffen, immer größere Korruption tritt zutage, Ministerien erweisen sich in ihren jeweiligen Verantwortungsbereichen als dysfunktional. Das Land sieht zudem einer wirtschaftlichen Katastrophe entgegen.

Hinzu kommt noch (durchaus in kausalem Konnex zum bisher Dargelegten), dass es die innerisraelische politische Konstellation fertiggebracht hat, den messianisch-faschistischen Kahanismus nicht nur salonfähig zu machen, sondern ihm eine beträchtliche Macht und Herrschaftsgewalt zu verleihen. Das ist für sehr viele Israelis unfassbar. Denn nicht nur war der Kahanismus über Jahrzehnte verpönt, ja nachgerade tabuisiert. Keine politische Verbandelung mit ihm seitens der etablierten zionistischen Parteien war denkbar: Seine Rechtsradikalität, sein Rassismus, sein messianischer Expansionismus, seine hasserfüllte Rhetorik – sie alle galten als nicht hinnehmbar für die “einzige Demokratie im Nahen Osten”. Im Nachhinein muss man sich fragen lassen, ob dieses Selbstbild keine Chimäre war, mithin, ob das, was jetzt so machtvoll zutage getreten ist, nicht schon immer im Zionismus angelegt war und nur zum aktiven Leben erweckt werden musste. “Kahane hatte recht” hieß es über Jahre im Graffiti-Milieu israelischer Faschisten, von israelischen Gutmenschen angewidert belächelt. Aber viele in Israel hadern heute nicht mit diesem Spruch. Und das Lächeln ist allen (außer den Kahanisten) längst vergangen.

Und so wie Yahya Sinwar die im Krieg umgekommenen Palästinenser als “notwendige Opfer” apostrophiert, haben die messianischen Kahane-Faschisten schon seit längerer Zeit die jüdischen Geiseln in Hamas-Gefangenschaft (die noch lebenden und die bereits toten) als hinzunehmende Opfer bzw. als Manifestation (notwendiger) kollektiver israelischer Opferbereitschaft abgebucht. Bezalel Smotrich hat schon vor Monaten erklärt, die Geiselbefreiung hätte bei den Zielsetzungen des derzeitigen Krieges keine Priorität, und sein Gesinnungsgenosse Itamar Ben-Gvir unterstützt die gegen die demonstrierenden Angehörigen der Gefangenen brutal vorgehende Polizei ohne Vorbehalte, während andere rechte PolitikerInnen die unglücklichen Angehörigen bei parlamentarischen Ausschusssitzungen als lästige Unruhestifter ankeifen, sie gar der Verrats zeihen, weil sie durch ihre Proteste gegen die Regierungspolitik Israel schwächten. Auch das ein Seiteneffekt der Kollateralschaden-Ideologie, der vielen Israelis als gravierendster Einbruch im Ethos der zionistischen Solidargemeinschaft gilt.

Derzeit weiß niemand in Israel, wie es weitergehen soll

Während Benjamin Netanjahu (aus erwähnten Gründen) unentwegt auf die “totale Vernichtung der Hamas” insistiert, hat inzwischen selbst der israelische Militärsprecher festgestellt, dass dieses Ziel militärisch schlechterdings nicht zu verwirklichen sei. Es bildet sich in diesem “Dialog” eine Krise zwischen der Regierung und der Armee ab: Wie schon kurz nach dem 7. Oktober baut der israelische Premier jetzt schon seine Verteidigungsstrategie auf, wenn er sich nach dem Krieg der Verantwortung für seine Verfehlungen wird stellen müssen – nicht er habe versagt, sondern die Armee, die seine “Zielsetzungen” nicht zu erreichen vermochte. Eine neue (diesmal innerisraelisch modifizierte) Version der Dolchstoßlegende bildet sich heran. Dass Netanjahu bei seiner Beschuldigungstaktik auch die USA nicht ausnimmt, ist nicht nur ein Zeugnis seiner Perfidie, sondern ein Indiz dafür, dass er selbst nicht mehr weiß, wie er sich aus der Sackgasse herausmanövrieren kann, in die er vor allem durch eigenes Verschulden geraten ist.

Niemand in Israel weiß auch heute klar anzuzeigen, was “am Tag danach” geschehen soll, also wie man sich die Zukunft des von Israel schändlichst verwüsteten, aber eben nicht “total besiegten” Gazastreifens vorzustellen hat. Die einzigen, die eine “klare” Vorstellung haben, sind die kahanistischen Faschisten, die von einer jüdischen Neubesiedlung des Gazastreifens und neuerdings gar eines Teils von Südlibanon räsonieren.

Wer geneigt ist, solche Visionen als Chimären zu belächeln, sollte sich daran erinnern – wie eine israelische Publizistin diese Woche schrieb –, dass es die Urväter dieser nationalreligiösen Bewegung waren, die vor einem halben Jahrhundert belächelt wurden, als sie die ersten Siedlungen im Westjordanland errichteten. In den folgenden Jahrzehnten haben es sie und ihre sich zunehmend radikalisierenden Nachfolger (mit staatlicher Unterstützung) geschafft, ein ca. 650.000 Menschen umfassendes zionistisches Siedlungswerk im besetzten Westjordanland aufzubauen – und die Zweistaatenlösung historisch vorerst zu verunmöglichen.

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